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Die Feuerwehr im Dorf Mumpf

Das Ungeheuer Feuer
Feuer war schon immer Segen und Fluch. Es sorgt für Wärme und Licht, für die Hitze beim Kochen und bei der Metallherstellung. Doch es bedroht die Menschheit seit ihrem Bestehen, durch Häuser in Brand setzen mit brennenden Pfeilen, Schnüren, durch Brandstiftung und aus Unachtsamkeit wie zum Beispiel glühende Asche.

Im alten Aegypten und im Römerreich
Schon die Ägypter und die Römer kannten Spritzen, Eimer, Leitern, Stangen, Decken, Körbe, Schwämme, Besen und Lappendecken (mit Wasser getränkt zum Schutz der Nachbarhäuser) zum Löschen. Wasserträger und Spritzleute in Sklavenfunktion wurden für die Feuerbekämpfung eingesetzt. 250 v. Chr. erfand ein ägyptischer Arzt eine Kolbenpumpe, mit dem ein kleiner Wasserstrahl auf ein Feuer ermöglicht wurde. Allerdings gab es noch keine Schläuche in unserem Sinne.

Im Mittelalter
Es war geregelt, dass jeder Haushalt Eimer mit Wasser gefüllt für Notfälle bereithalten musste. Es wurden Wasserträger ernannt, die bei Feuer sofort mit den Eimern Wasser zur Brandstelle bringen mussten. Auch der Fischingerbach und der Sägebach dienten als Quelle für das Löschwasser. Ende Mittelalter gab es freiwillige und in Städten auch berufliche Feuerwehrgruppen. Das Retten von Mensch, Tier, Fahrhabe und Mobiliar ohne die heutigen Hilfsmittel entpuppte sich oft als aussichtslos. Bei einem Brand fanden sich oft auch die Feuerwehren der Umgebung ein, auch aus den rechtsrheinischen Gebieten.

Mit der Zeit ergaben sich für die Feuerwehr neue Aufgaben: Der wilde Rhein und der Talbach (heute Fischingerbach) traten bei Gewittern mehrere Meter hoch über die Ufer. Wetterstürme decken Hausdächer ab und legen Bäume um. Auslaufendes Öl muss gebunden und aufgenommen werden.

Feuer- und Hochwasserbekämpfung in Mumpf
Das Dorf erlebte am 31. Mai 1634, dass es durch eingedrungene schwedische Soldaten in Asche gelegt wurde. Nur wenige Häuser überlebten: Die Kirche, die Mühle, die Schmitten, das Haus des Boni, ein Stall und zwei Strohhäuser.

1828 stellt das Dorf erstmals zwei Nachtwächter an bei einem Jahreslohn von je 50 Franken. 1845 erstellte die Gemeinde das erste Spritzenhaus, ein Jahr später kaufte sie die erste Feuerspritze für 600 Franken.

1850: Ein Frachtwagen gerät in Brand. Das Gasthaus „Sonne“ war auch eine Pferdewechselstation. Diese befand sich der „Sonne“ gegenüber in einer grossen Scheune mit Wagenunterstand und Pferdestall. „Der Liberale Alpenbote“ berichtet am 8. Juni 1850 vom Brand.

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1861 ist vom Brand der Scheune des Bauernhofes der Witwe Mösch zu lesen. Das Wohnhaus konnte gerettet werden, sicher auch dank der Hilfe der Feuerwehren aus Wallbach, Säckingen und Obersäckingen. Die Löschspritzen wurden dabei von Hand zum Brandplatz gezogen.

1867 leisteten die Mumpfer Feuerwehrmänner mit ihrer Feuerspritze bei einem Brand in Stein nachbarliche Hilfe. Sie waren als erste Auswärtige auf dem Platz. Der Besitzer des Solbades „Sonne“, F.J. Waldmeyer erlitt bei den Löscharbeiten schwere Brandwunden.

1875 brannten gegenüber dem Gasthaus „Glocke“ drei Häuser nieder. Obwohl auch die Wallbacher und die Säckinger Feuerwehr zu Hilfe eilte, waren die Häuser, die Fahrhabe und einige Tiere nicht zu retten. Ein Handwerksbursche soll den Brand gelegt haben.

1893 brach am 29. April im grossen Bauernhaus gegenüber dem Gasthof „Adler“ ein Brand aus. Aus Wallbach, Obermumpf, Stein und Säckingen kam Hilfe, so dass die beiden angrenzenden Häuser, die schon Feuer gefangen hatten, doch gerettet werden konnten. Vom grossen Bauernhaus jedoch war kaum mehr etwas übrig geblieben.

1895 läuteten die Kirchenglocken wiederum Feueralarm. Ein Doppelhaus stand in Flammen. Das Löschen erwies sich als gefährlich, explodierte doch hin und wieder Taschenmunition, die zu einer Militärausrüstung gehörte. Acht Feuerwehren kamen von den umliegenden Orten zu Hilfe. Diese konnten wenigstens die Nachbarbauten vor dem Feuer bewahren.

1896 wurde das seit 1495 existierende Gasthaus „Glocke“ Opfer einer Brandstiftung. Wohn- und Gasthaus, Stall, Scheune und ein Lebensmittelladen brannten total nieder. Der Pächter hatte den Brand gelegt. Die „Neuen Zürcher Nachrichten“, Nummer 57, 11. Juli 1896 schreiben:

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Nach 1817, 1831, 1851, 1852, 1876, 1881, 1882 und 1893 war auch 1910 ein schweres Hochwasser eingetroffen. Es mussten durch die Feuerwehr viele Häuser geräumt und den Bewohnern neue Plätze zugewiesen werden. Sie stellte auch Rheinwachen auf, um die Entwicklung des Hochwassers zu beobachten und allenfalls Menschen zu evakuieren.

1926 fiel die „Schönegg“ - Bauernhof, Gasthof und Kurhaus in einem - dem Feuer zum Opfer. Die Presse der ganzen Schweiz berichtete darüber. Der „Graubündner General-Anzeiger“ meldet am 28. August 1926:

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Der „Bote vom Untersee und Rhein“ vom 24. August 1926 schreibt:

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„Neue Zürcher Nachrichten“, Nummer 233, 27. August 1926:

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1945 brannte die Liegenschaft des Zimmermeisters Güntert im Unterdorf. Scheune und Stall konnten nicht mehr gerettet werden, im Gegensatz zum Vieh, zu Wohnhaus und Werkstatt.

1977: Brand der Liegenschaft Güntert gegenüber der alten Post
1984: Brand Hotel „Sonne“
1985: Brand der „Salzi“ an der Hinteren Dorfstrasse.

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Die Handdruckspritze von 1895
Im Feuerwehrlokal im Untergeschoss des alten Schulhauses untergebracht war die 1895 angeschaffte, von Pferden gezogene Handdruckspritze Nr. 1176. Die Leistung lag bei etwa 200 l/Minute bei 8 Mann und mit 50 Doppelhüben/Minute. Wasser-Wurfweite ca. 25 Meter.

Sie ist ausgestattet mit den Saugschläuchen aus Leder. Diese führten das Wasser vom Rhein oder vom Bach in den Wassertank und schlossen dann die zum Brand führenden Leitungen am Wassertank an. Die beiden Pumpmannschaften erzeugten durch die Bewegungen an den Enden der Druckstange über die beiden Kolben in den Zylindern den nötigen Wasserhochdruck.

Dies war eine sehr schwere Arbeit für die Pumpenmannschaften – hinten und vorne je 4 Mann – die nach einiger Zeit an der Druckstange abgelöst werden mussten, um nicht kraftlos zu werden.

Die Besatzung: Total 19 Feuerwehrleute: 8 Feuerwehrleute (je 4 pro Seite) an den Drückbalken. Diese mussten alle 10 Minuten ausgewechselt werden! Zusätzlich: Ein Fahrer als Kutscher, ein Rohrführer plus ein Mann als Unterstützung.
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Diese Spritze ist im Dorfmuseum ausgestellt.
Bis etwa 1920 wurden die Löschspritzen von Hand gestossen und gezogen oder mit Pferden zum Einsatzort gebracht. Nun schafften die Bauern ihre ersten Traktoren an, so dass man diese auch für die Feuerwehr einsetzen konnte.

1992 öffnete die Mehrzweckanlage Burgmatt ihre Räume. So konnte ein neues Tanklöschfahrzeug in den Räumlichkeiten der Feuerwehr untergebracht werden. 2008 schlossen sich die beiden Feuerwehren Mumpf und Wallbach nach einer intensiven Zeit der Zusammenarbeit zu einer gemeinsamen Organisation zusammen.

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Feuerwehrarbeit ist Dienst an der Gemeinschaft
Sie beruht auf echter Feuerwehrkameradschaft. Diese spielt oft auch ausserdienstlich. Dazu ist in den „Freiburger Nachrichten“ 15. Oktober 1932 eine berührende Geschichte notiert:

Auch die folgende Episode gehört zur Geschichte unserer Feuerwehr: Im Gemeinderatsprotokoll vom 11. März 1938 vernehmen wir von der in aller Stille stattgefundenen Gründung der ersten aargauischen „Jungfeuerwehr“ in Mumpf, wie das Versicherungsamt bestätigte.

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Quellen:
- Wikipedia / Geschichte der Feuerwehr
- Geschichte und Chronik der Gemeinde Mumpf
- Jubiläumsschrift 200 Jahre Feuerwehr Wallbach

Autor:
Gerhard Trottmann

Die Zeit des ersten Weltkrieges in Mumpf

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Der Ausbruch
Die Ermordung des österreichisch-ungarischen Thronfolgers Franz Ferdinand in Sarajewo löste den ersten Weltkrieg aus. Am 1. August 1914 beschloss der Schweizer Bundesrat die allgemeine Mobilmachung. Die Bundesversammlung bestimmte Ulrich Wille als General. Das Gemeinderatsprotokoll vom 11. August vermerkte ein „Cirkular betreffs Verbot von tragen von Schuss- und Stichwaffen“.

Gleichzeitig „wird anlässlich der Grenzbesatzung die eingeteilte Feuerwehr stark reduziert, so dass eine vorsorgliche Feuerwehr aus ältern Bürger und minderjährigen Knaben veranstaltet wurde und die diesbezügliche Einteilung der ganzen männlichen Bevölkerung unterbreitet.“
Die Mumpfer erlebten durch die Mobilisierung am 1. August eine „böse“ Überraschung, war doch alles für den Bundesfeiertag vorbereitet:
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„Sollte im August ein Waldfest ob dem Bahnwärterhäuschen abgehalten werden. Tische und alles andere war bereit, da brach am 1. August der Weltkrieg aus, ....“ (Aus der handschriftlichen Chronik im Gemeindearchiv)

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Schwere, genagelte Militärschuhe von Otto Waldmeier getragen im 1. Weltkrieg.
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Ein Mumpfer Soldat im Sonntagsurlaub im 1. Weltkrieg. (Aus dem Fotoarchiv Dorfmuseum Mumpf)
Die meisten Mumpfer leisteten ihren Dienst im Fricktal. Ab sofort erfolgte eine strenge Bewachung der Grenze am Rhein, dies jedoch ohne Befestigungsanlagen wie später im 2. Weltkrieg. 220’000 Schweizer Männer wurden damals in den Aktivdienst eingezogen. Zur Ausrüstung der Soldaten gehörte auch das Schuhwerk aus sehr hartem Leder und mit handgeschmiedeten Nägeln in der Sohle.

Schwieriges Leben an der Grenze
In Säckingen standen Textilfabriken, die von Schweizer Fabrikanten gegründet wurden und Hunderten Fricktalern Lohn und tägliches Brot boten. Doch mit Kriegsbeginn erfolgte die Schliessung des Betriebs der Rheinfähre Mumpf – Säckingen. Damit mussten die Arbeiter aus Mumpf, Obermumpf, Zuzgen und Zeiningen, so sie noch Arbeit hatten, ihren Fussweg über Stein und die Säckinger Holzbrücke nehmen. Dies bedeutete jedes Mal einen Zusatzweg von etwa 1,5 Kilometer.
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Der Weltkrieg stellte das Leben am Rhein auf den Kopf. Das Zusammenleben war grenzenlos: Fricktaler wohnten auf der deutschen Seite, Badische im Fricktal. So holte sich Zahnarzt Otto Frommherz die Mumpferin Marie Kaufmann zur Frau und erbaute hier zwei grosse Häuser. Auf der Schweizer Seite bezahlten die Menschen ihre Einkäufe im Laden eher mit Reichsmark als mit Franken. Diese menschlichen und wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Baden und Fricktal wurden durch die Grenzschliessung 1914 abrupt unterbunden. Wie gross die Verbundenheit war, zeigte sich in den Ausgaben der „Volksstimme aus dem Frickthal“. Die Kriegsopfer aus der badischen Nachbarschaft wurden regelmässig namentlich gemeldet, wie am 20. Oktober 1914:
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Wie angespannt die politische Lage war, zeigt der Bericht aus der „Volksstimme aus dem Fricktal“ vom 5. Dezember 1914, als zwei Mumpfer Fischer auf der Wache Säckingen verhaftet und grundlos drei Tage lang festgehalten wurden.
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Ein ganz kleiner Grenzverkehr war zwar weiterhin möglich, aber unter strengsten Kontrolle. Der Mumpfer Bauer und Besitzer des Hofes „Schönegg“, Johann Bretscher, hatte das Recht, Milch mit dem Fuhrwerk über die Grenze via Holzbrücke nach Säckingen zu fahren. Aus Obermumpf und Wallbach brachten die Bauern die nicht verkaufte Milch zum Mumpfer Bahnhof und übergaben sie Bretschers. Zusammen mit ihrer restlichen eigenen Milch verkauften sie das kostbare Gut den Bewohnern von Säckingen in der Nähe des Hutladens von Frau Stoll, wo Johann Bretscher noch eine eigene Liegenschaft besass. Sein Sohn Hans Bretscher, *1898 und als Aushilfe sein Bruder Fritz Bretscher *1901, übernahmen die Arbeit des Transportes.

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Banknoten: Wie aus 100 Mark 100 Billionen Mark wurden.
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Eine deutsche Briefmarke kostete Millionen von Reichsmark!
Nach dem Kriegsende fand die Familie Bretscher im Estrich eine Schachtel voll von Reichsbanknoten aus dem Milchverkauf – Milliarden von Mark – die jedoch rein nichts an Wert bedeuteten. Die Menschen erlebten während und vor allem nach dem ersten Weltkrieg eine Geldentwertung, wie sie noch nie vorgekommen war. Briefmarken kosteten nicht mehr 10 Pfennige, sondern plötzlich Millionen von Reichsmark.

Auch in der Schweiz setzte eine Geldentwertung ein.
Die Lebensmittelgeschäfte wurden in den ersten Kriegstagen regelrecht leer gekauft. Rasch machte sich ein Mangel an Nahrungsmitteln bemerkbar. Dadurch stiegen die Preise, was schlussendlich zur Verarmung und Unterernährung führte. Butter war 1918 doppelt so teuer wie 1914. In Möhlin kostete ein Kilo Kartoffeln 12 Franken. Zu spät wurden die Lebensmittel Brot, Mehl, Teigwaren, Kartoffeln, Zucker, Öl, Fett, Milch, Käse und Butter rationiert. Der Kanton Aargau gab Lebensmittelmarken für diese Grundnahrungsmittel ab. Es gab fleischlose Gerichte fast Tag für Tag, etwa Maccaroni mit Dörrobst, Weisse Bohnen mit Tomatensauce oder Polenta mit Birnen. Einige Zahlen lassen sich in der handschriftlich nachgeführten Chronik im Gemeindearchiv nachlesen: Die Brotration war eine zeitlang auf 220 Gramm pro Tag festgesetzt. Das Pfund Brot kostete 40 Rappen, der Liter Milch 42 Rappen, Pfund Butter 4.40 Fr., der Ster Holz 35 Franken.
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Anstieg der Detailhandelspreise 1914 – 1918 (Quelle Hist.Gesellschaft Kanton Aargau)

Zum Kriegsende lag die Schweiz sozial am Boden. Die Männer bekamen zwar ihren Sold für den Militärdienst. Doch der wurde sehr oft zu Alkohol umgewandelt und kam nie daheim in der Familie an. Der Hausfrau blieb die Arbeit im Betrieb, auf dem Feld und im Garten. Die Preise stiegen in den letzten Kriegsjahren stärker an als die Löhne.

1918 kam zu den wirtschaftlichen Problemen eine aussergewöhnlich heftige Grippewelle – die Spanische Grippe – hinzu, die auch im Fricktal Dutzende Tote forderte. Unter den Soldaten grassierte die Epidemie.

Der Mumpfer Albert Hurt starb an ihr beim Militärdienst auf dem Gotthard. Noch heute erinnert ein Grabstein auf dem Friedhof an ihn. Bis 1920 dauerte die Grippewelle an, das Zusammenleben und die Vereine waren auf Sparflamme.

Im November 1918 fand auch der Generalstreik statt. Die Arbeiter forderten mehr Rechte und bessere soziale Absicherungen. Als Folge wurde die 48-Stundenwoche eingeführt und in der Bundesverfassung die Grundlage für die AHV geschaffen.

Quellen:
- Historische Gesellschaft des Kantons Aargau
- www.kriegsnachrichten.ch
- Protokoll Gemeinderat Mumpf
- Handgeschriebene Chronik Gemeindearchiv Mumpf

Autor:
Gerhard Trottmann

Die Kunststickerin Mathilde Riede-Hurt

Ihr Leben und ihre Werke in schweren Zeiten.

Das Schicksal führt die Mumpfer Bürgerin in das schreckliche Räderwerk des Nationalsozialismus. Die Kriegs- und Nachkriegszeiten stellen sie als Mutter zweier Kinder, als Gattin eines Soldaten und als Künstlerin vor fast unlösbare Situationen. Anhand ihres Tagebuches und einigen Bildern gehen wir einem Teil ihres Lebens und ihrer Werke in diesen besonders schweren Zeiten nach.

image001Math. Riede-Hurt: junge Mutter 1936...
image002...und um 1986 in ihrem Haus in Spiez.

Mathilde Riede und ihr Umfeld
Mathilde Hurt wächst am Rhein in Mumpf auf. Hier lebt sie von 1906 bis 1934 als Kind, als Seminaristin und schliesslich als Mumpfer Arbeitslehrerin. Für die Liebe verlässt sie ihren Heimatort am Rhein, um im 300 Kilometer entfernten Ludwigshafen am selben Fluss Wohnsitz zu nehmen. Doch das Schicksal führt sie in das schreckliche Räderwerk des Nationalsozialismus. Die Kriegs- und Nachkriegszeiten stellen sie als Mutter zweier Kinder, als Gattin eines Soldaten und als Künstlerin vor fast unlösbare Situationen.
Anhand ihres Tagebuches und einigen Bildern gehen wir einem Teil ihres Lebens und ihrer Werke in diesen besonders schweren Zeiten nach.

Mathilde Riede-Hurt verbringt ihren Lebensabend am Thunersee, zusammen mit Ihrem Mann Josef. Ab 1971 in Einigen, ab 1981 im neu erbauten Haus Spiezberg in Spiez. In ihrem Alter wirken die Spuren ihres Lebens mit aller Härte nach. Zwar hat das Schicksal sie innerlich und geistig stark gemacht, jedoch zugleich ihren Körper geschunden: Stark im Denken, Kämpfen und sich Einbringen; schleichend geschwächt durch die Kriegsjahre mit ihren Entbehrungen, Enttäuschungen, Schreckmomenten. Am Thunersee befällt sie ein Lungengewebeschwund mit entsprechenden Atemnöten und eine Arthritis mit zunehmender Versteifung ihrer Finger. Mitte September 1988 stirbt Mathilde an einer Lungenembolie.

Mumpf ist ihr Heimatdorf, Fischer-, Flösser- und Schifferdorf, Bäderkurort, 300 Einwohner, Martinskirche, fünf Gasthöfe, fokussiert auf den Rhein, behütet und gleichzeitig beengt von Mumpferfluh, Chriesiberg und Schwarzwald.

Der Rhein mit den Flossen, Schiffen, Fischen und der Fähre, ein Widerstand fordernder wilder Fluss. Trotz Hochwasser ist der Rhein Kamerad, mit dem man richtig umgehen muss. Die Vorräte der Familie Hurt werden in Bottichen gelagert. Dringt durch Überschwemmung Wasser in die hohen Keller, werden diese zu kleinen Schiffen. So fährt Mathilde im eigenen Haus im kleinen Kahn und fängt die Fische im Keller von Hand, wie sie es vom Rhein her kennt.

Die Mutter: Luise Hurt-Obrist, Schwester des Sägereibesitzers Josef Obrist, Ruhepol und die Lenkerin der Familie, offen auch für Neues, belesen, auch schlagfertig. Als der Dorfpfarrer sich bei ihr über die Rockkürze ihrer Tochter Mathilde beschwert, gibt sie zurück, Hildis kurzer Rock sei ihr lieber als manch lange Soutane.

Der Vater: Eugen, ein Original. Einer der wenigen Bootsbauer am Oberrhein. Einer, der seine Fähren nicht nach Plan, sondern nach dem Holz, seinem Gespür und seinem Gefühl erbaut. Mathilde hilft zusammen mit ihrer Schwester Elisabeth bei Handreichungen mit: Wenn Vater Eugen Nägel braucht, sagt er „Läng mer e Vierzger, e Fufzger“. Der Bau der Kraftwerke versetzt ihm Dolchstiche ins Herz, weil dem Fluss die Urgewalt und die Fische abhanden kommen. “Das isch doch kei Rhy meh!“ schimpft er. In der Armee lässt er sich nicht zu den Pontonieren einteilen, sondern zu den neu geschaffenen Radfahrern.

Mathilde Hurt: Behütet, gefordert und gefördert. Reich beschenkt mit Talenten, inspiriert von der Urkraft des Rheins, der Werkstatt, der Mumpferfluh mit ihrer Natur. Mit 12 Jahren besucht sie die Bezirksschule in Rheinfelden. Wenn kein Zug fährt, legt sie die 15 km zu Fuss zurück. Sie hat immer zwei Paar Schuhe dabei, die einen für den Schulweg, die andern für die Schule.

18-jährig unternimmt sie nach der Handelsschule in Basel eine Reise nach Paris, vor allem der Kunst wegen. Doch sie hält es dort nicht lange aus, kehrt vor lauter Heimweh ins Elternhaus an den Rhein zurück. Mathilde meldet sich in der Kunstgewerbeschule in Basel an, obwohl ihre Eltern sagen, „das ist nichts für Unsereins“.

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1926 besucht sie das Seminar Aarau. Ein Jahr später ist sie diplomierte Handarbeitslehrerin und wirkt fortan bis 1934 in Mumpf. Sie begleitet auch die Klassen auf ihren Schulreisen wie z.B. 1928 die Oberschule in die Hauptstadt Bern (auf dem Bild ganz rechts).

Und sie inszeniert zusammen mit Oberstufenlehrer Brenner und Unterstufenlehrer Zumsteg im Jahr 1932 das Märchen „Schneewittchen und die sieben Zwerge“.

Mathilde Hurt kommt auch mit der Bauhaus-Architektur in Berührung. Obwohl das Dorf den Kopf schüttelt, zeichnet und baut sie ein Flachdachhaus für ihre Familie im Unterdorf, wo sie nach der Übergabe der Bootsbauerei an Johann Waldmeier 1930 Wohnsitz nimmt.
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Noch in Mumpf, um 1930, entstehen ihre ersten Bildteppiche. „Drei Freundinnen“ ist eine Seidenapplikation und als ältestes Werk im Familienbesitz. Besonders das rote Kleid hat gelitten, weil Tochter Gabriele mit ihren Fingernägeln immer wieder darüber gefahren ist. Das inzwischen verblichene Werk hat die Wirrnisse der Kriegsjahre überlebt. Ein zweites Werk nennt sie „Glücksapfel“, ein drittes „Astrologie“, beide aus Wolle.

Eine schicksalshafte Entscheidung
1934: Josef Riede, Innenarchitekt und Bühnengestalter aus Ludwigshafen am Rhein und Mathilde Hurt, Arbeitslehrerin aus Mumpf geben sich das Ja-Wort. Sie lassen sich in Ludwigshafen nieder und wohnen in ihrem Wohn- und Geschäftshaus. Sie betreiben einen Einkaufsladen für Böden, Tapeten und Vorhänge. Durch ihre Heirat mit einem Deutschen verliert sie das Schweizer Bürgerrecht. Es ist die Zeit, in dem Reichspräsident von Hindenburg stirbt und Hitler als Reichskanzler auch noch Reichspräsident wird. Sie bleibt jedoch Fricktalerin: Stets spricht sie Fricktaler Mundart, beflaggt beim Besuch des Führers 1935 das Haus in Ludwigshafen nicht und wird beschimpft, weil sie nicht recht grüssen könne.

In Deutschland setzt sie ihre künstlerischen Arbeiten fort. 1934 entsteht „Hochzeitsreise“ mit Eindrücken aus Madeira, Teneriffa und Algerien. Und 1935 schafft sie das „Lebensrad“. Beide Werke sind Wollstickereien.

1936 kommt Tochter Gabriele zur Welt. Mathilde Riede-Hurt ist nun fünffach beschäftigt, in alphabetischer Reihenfolge: Als Ehefrau, als Geschäftsfrau, als Hausfrau, als Künstlerin und als Mutter. Sie schreibt später einmal über Hausfrauenarbeit: Kochen, Fressen, Putzen, Fegen, Kaufen etc... -- mir liegt es nicht und kann mich nicht befriedigen.

Umso mehr geniesst sie ihre künstlerische Betätigung. Das hat sicher auch zu tun mit den Verbindungen zur Kunst- und Gönnerwelt von Ludwigshafen. Dazu gehören die Industriellenfamilien Kurt Raschig und Klaus Raschig, der Kunsthalledirektor von Mannheim, Walter Passarge, der Kunsthandel mit Frau Stern-Neumann und bildende Künstler wie die Malerfamilie Overbeck.

Es hat vor allem damit zu tun, dass sie Verbindung bekommt mit der Forschungsabteilung der aufstrebenden BASF (Badische Anilin- und Sodafabrik). Diese erfand ein Verfahren, um Leinengarne lichtecht und waschecht einzufärben. Mathilde Riede entscheidet sich für eine Farb-Palette mit kräftig-erdigen Farbtönen und nimmt daran in all den Jahren der Leinenstickerei keinerlei Änderungen vor.

1937 blüht Deutschland auf. Es geht aufwärts, indem die Arbeitslosenzahlen sinken. Chemie, Autobahnbau, Autofabriken, Rüstungsindustrien laufen auf vollen Touren. Allerdings lässt Hitler seine Flugzeuge erproben - im spanischen Bürgerkrieg mit der Bombardierung der Baskenstadt Guernica.

1938 bewirkt Hitler den Anschluss Österreich’s und Teile der Tschechoslowakei an das Deutschen Reich. Im November folgt nach der Pogromnacht die Entrechtung der Juden und der Einzug ihres Vermögens.

Der Kriegsbeginn
1939 fällt Hitler in Polen ein. Auch zerschlägt er die restliche Tschechoslowakei. Er kündigt schliesslich auch die Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa an.

1940: Hitler fällt in Frankreich ein, beginnt die Luftschlacht um England und besetzt Norwegen. Das Konzentrationslager Auschwitz wird errichtet.

Was kommt da auf Mathilde zu? Was machen diese Zeiten aus ihr? Erst das Aufblühen 1937 und dann wird ihr Mann in den Wehrdienst eingezogen. Im täglichen Familien- und Geschäftsleben ist sie plötzlich weitgehend auf sich selbst angewiesen. Sie fühlt sich fremd in diesem Land und dem Geschehen gegenüber. Sie spürt, wie sie immer mehr eine Gefangene wird, abgeschnitten vom Heimatdorf, von der Familie, ohne Schweizer Bürgerrecht, umgeben von einem unerträglichen Gedankengut, vor einer ungewissen Zukunft. Im Alltag hängt sie dauernd und unmittelbar von den Nazis ab. Mathilde spürt schwere Unbehagen aufsteigen. Sie schreibt im April 1939: Wie die Adern des Körpers bis in die Finger- und Zehenspitzen durchdringen, so ist es mit den Nationalsozialisten.

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Das Paradies als Schlaraffenland und die Arche als einzige Rettung.
Genau in diesen Zeiten zwischen 1937 und 1940 entstehen auch ihre ersten Leinenstickereien. Zum Beispiel 1937 „Paradies“ und 1940 „Arche Noah“. Doch was sind das für zwei Gegensätze. Im „Paradies“ liegen die Fülle des Lebens, Hoffnung, Lebensfreude, vielleicht der „Aufbruch“ des Jahres 1937. Die Vierfüssler stehen geerdet da. Vögel jauchzen himmelhoch. Die Menschen gehen Hand in Hand. Die Natur ist reich an Formen und Farben. Alles ist da, im verschwenderischen Überfluss.

1940 dann die Arche Noah. Noah baut sie, weil eine grosse Gefahr, eine gewaltige Flut droht und er Menschen, Pflanzen und Tiere darin zum Überleben retten will. Die Arche steht für den Glauben an die Zukunft, für einen starken Überlebenswillen, für Widerstand. Erkennt Mathilde die Gefahren, die auf die Welt zusteuern? In den beiden Werken Paradies und Arche liegen die Gegensätzlichkeiten von Aufbruch und Untergang.

1941: Deutschland überfällt die Sowjetunion. Die Endlösung der Judenfrage wird angekündigt, das Tragen des Judensterns angeordnet. Im selben Jahr wird ihr Sohn Urs Nikolaus geboren. Mathilde beginnt in der Folge eine weitere Leinenstickerei, die sie 1942 vollendet: „Lebensbaum“. Das Leben pulsiert auf allen Stufen in vielerlei Variationen unbändig und lustvoll. Alle bedienen sich an den Früchten des Lebens-Baumes, doch zuunterst lauert die Schlange und auf der obersten Stufe bleibt nur noch der Esel. Dieser Behang bietet viel Raum für Interpretationen. Was Mathilde in ihrer Lebenslage ausdrücken will, bleibt unbeantwortet.
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Lebensbaum mit Schlange und Esel - Fasnachtsbräuche

Auch die Deutung des Wandbehangs anfangs 1943, “Fasnachtsbräuche“ als Leinenstickerei ist uns überlassen. Warum gerade der unverfängliche Titel? Geht es ihr um Heimatliebe, Erinnerungen an das Brauchtum, Ablenkung vom Zeitgeschehen? Sieht sie die Welt voll von Narren, Dämonen, Hexen, Teufeln? Oder philosophiert sie: Das Tragen von Masken wird irgendeinmal beendet sein – die Wahrkeit kommt ans Tageslicht. Mathilde Riede hat eben auch einen starken Hang zu Sarkasmus und Ironie.

Mathilde’s Haus wird bombardiert
Im August 1943 folgt ein Tiefschlag. Ludwigshafen erlebt schwere Bombennächte, ihr Wohn- und Geschäftshaus wird zu einem Trümmerhaufen. Mathilde erhält die Kunde bei einem Kuraufenthalt in Bad Dürrheim im Schwarzwald. In der ersten Not bekommt die Familie ein Zimmer bei Freunden. Dann sorgt Ehemann Josef Riede bei einem Militärurlaub für einen Wechsel nach Esthal im Pfälzer Wald. In diesem ärmlichen Dorf hat er im Lehrerhaus eine kleine Wohnung ausgemacht mit Küche und zwei Zimmern. Einen speziellen Waschraum gibt es hier wie fortan nicht mehr. Sie stellen eine Zinnwanne in der Küche auf und nehmen dann alle im gleichen Wasser nacheinander ein Bad. Ihr Glück im Lehrerhaus währt bis Ende des Jahres 1943. Die Zimmer werden von der Vermieter-Familie gebraucht. Mathilde kann dann unter Mithilfe ihres Mannes zwei Räume in einer Militärbaracke beziehen.

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22. Februar 44: Herrliches sonniges Winterwetter! Wir müssen die Öfen wacker heizen um nicht zu frieren. Doch Seppl ist ja heute noch da! Uns ist so friedlich in unserer Hütte. Bei uns ist es sogar recht wohnlich geworden! Seppl ist ein Kauz. Tags darauf schreibt sie: Mein neuer Behang gibt mir viel zu denken.

15. Juni 1944: Der Behang „Muntphein“ ist fertig. Schlechter als schlecht. Er machte mir sehr viel Kopfzerbrechen. Ich habe viel gelernt dabei. Dass ich nichts kann und dass ich den Behang nicht aus Liebe zur Stickerei gemacht habe, sondern zum Malen.

Tatsächlich ist der Wandteppich sehr dicht bestickt und zwar mit bis zu drei Lagen. Mit jedem Stich könnte sie ihr Heimweh, ihre Hilferufe, ihr Schicksal hinein verwoben haben. Das Werk ist sehr üppig im Gegensatz zu den mageren Zeiten und brutalen Verlusten, die sie durchleben muss. Mathilde sieht sich auf der Mumpfer Fluh, rund herum reiche Fruchtfelder, satte Blumenwiesen und behangene Apfelbäume. Sie hält die Schürze weit offen, um sie mit Gaben aus der Heimat füllen zu können. Sie bezeichnet ihr Heimatdorf Mumpf mit dem Namen „Muntphein“ aus dem Mittelalter, als ob sie die Zeit weit zurückdrehen möchte.

1944 erhält sie den Auftrag, für die Pfarrei Esthal zwei Prozessionsfahnen zu sticken: Eine Marienfahne und eine St. Georgsfahne.
1. Juli: Die Entwürfe der Fahnen sind ganz ordentlich.
3. Juli: Ich will einen Behang machen über Bruder Klaus. Die Marienfahne ist bald fertig.
12. August: St. Georgsfahne wird ganz gut.
Mathilde Riede arbeitet also die ganze Zeit wie besessen an ihren Behängen. Doch die Geschmäcker der Künstlerin und des Pfarrers scheinen verschieden zu sein. Vielleicht sind die Stickereien zu wenig fromm, zu wenig heilig, zu wenig huldvoll – der Pfarrer ordnet die beiden Fahnen im hintersten Prozessionsviertel ein.

Mathilde’s Vater stirbt
12. August 1944: Von daheim höre ich schon kange nichts mehr. Wie geht es wohl Vater? Mathilde ahnt, dass die Verluste weiter gehen.
27. August: Von Vater habe ich keine gute Nachricht. Er wird den Herbst nicht erleben. Wenn das Laub fällt, wird er das Schlimmste überstanden haben.
Am 30. August erhält Mathilde die Todesanzeige. Wir lesen im Tagebuch:
Seit Wochen war ich ein zerrissener, hin- und hergezogener Mensch. Oft musste ich von meiner Arbeit weg um etwas anderes zu tun. Oder ich lief wie suchend übers Feld. Heute ist mir alles klar geworden. Vater lag im Sterben, seine Seele nahm Abschied. In mir liegt nicht mehr der Schmerz, sondern eine feiertägliche Stille und Ruhe. Vater ist tot. Vater ruhe gut, Du hast uns viel Wertvolles zurückgelassen. Sein gerades Wesen leuchtet mir wie eine Kerze.
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Am 9. Oktober 1944 schreibt sie: Meine schöne friedliche Heimat, wie billig tauschte ich dich ein. Bruder Klaus, gib mir doch dein schlichtes rechtes Denken.

Diesem Bruder Klaus widmet sie nun ihre nächste grosse Leinenstickerei. Der Einsiedler ist für die Künstlerin eine Leuchtgestalt, eine Turmgestalt. Auf die Vollendung des Werkes müssen wir allerdings bis 1946 warten! Ein Jahr vor seiner Heiligsprechung.

Es ist der 23. Okober 1944. Der Mutter mit ihren zwei Kindern Gabriele und Urs Nikolaus werden die Barackenräume gekündigt. Hier soll eine hitlertreue Familie eine Unterkunft erhalten. Mathilde, bald obdachlos, weiss nicht wohin. Tags darauf notiert sie: Ich weiss nicht was tun. Wohin soll ich denn ziehen? Eigentlich sind meine grössten Wünsche meiner Kindheit längst in Erfüllung gegangen. Konnte ich dieses Jahr nicht oft genug umziehen? Sie schreibt Seppl. Seppl bekam mein Telegramm: Muss Blockhaus sofort räumen. Komme unverzüglich. Bin obdachlos. Und er kommt.

28. Oktober: Seppl bemüht sich um eine Wohnung. Niemand will uns aufnehmen. Wir bauen ein kleines Häuschen. Wohin denn? Also beschliessen die Beiden, ein eigenes Häuschen zu bauen. Es soll 6x6 Meter messen und ein Wohnzimmer, eine Küche, ein WC und zwei abgeschrägte Dachboden-Schlafzimmer enthalten. Doch das wird dauern.
5. November: Ich habe das Plätzchen. Auf dem Michelsberg. Über allem Lärm. Weg von den Menschen. Mathilde hat die Erlaubnis von der Gemeinde Esthal erhalten, ein Grundstück zu mieten und das Häuschen zu erstellen.
Am Sonntag 12. November 1944 erinnert sich Mathilde an den Mumpfer Kirchenpatron. Es ist also Martinstag. Sechs Tage Regen und Schneefall. In diese Zeit fällt der Auszug aus der Baracke. Bei Wind und Regenwetter, wie sie schreibt. Diese Tage kann ich nie vergessen. Umziehen wohin? Ich war zum Glück unempfindlich gegen alle Empfindungen, stumpf und stur arbeitete ich wie ein Lasttier. Nass bis an die Knie und kalt bis an die Nase.
Sie beginnt mit ihren Kindern den Abtransport ihrer Habseligkeiten, darunter die Stickereien und die Stickgarne. Mit einem geborgten Schubkarren steuert sie dem Wald zu. Eine Frau ruft aus dem Fenster: „Hilde, wo gehst du hin?“ „In den Wald“. Das lässt die Frau nicht zu und räumt ein Zimmer in ihrem Haus. Eine Weile später bekommt die Familie in einem andern Haus einen Mansardenraum zum Bewohnen.

9. Dezember 1944: Ich hüte oft ganz wüste Gedanken. Ich habe die ganze Welt auf dem Strich. Das Leben ist für mich aus. Ich muss tot sein. Nichts mehr empfinden. Stumpf dahinleben. Nichts denken. Nichts mehr wünschen. Ein Nichts sein. Doch der Lebenswille und die Widerstandskraft lösen ihre Depressionen ab: Um den Jahresanfang 1945 schaufelt sie zusammen mit zwei alten, nicht mehr kriegstauglichen Männern das Fundament des Häuschens aus. Und zusammen erstellen sie mit Steinen und Mörtel die Mauern.
Auch arbeitet sie an einer weiteren Stickerei, betitelt mit „Weltkugel“. Schiefe Häuser, ausgestorbener Ort, totes Blattwerk, gebrochene Bäume, keinerlei Getier, beengende Stille, ein Geisterdorf stellvertretend für den Globus, so sieht sie die Welt.

Ihr Arbeiten auf dem Bau und an den Stickereien lässt keine Zeit mehr zum Schreiben bis zum 30. April 1945, ihrem 39. Geburtstag: Wir warten von einem Tag auf den andern auf das Ende des Krieges. Was kommt aber dann? Von Seppl weiss ich nichts mehr. Ob er lebt? Es wird ein hartes Leben werden. Mein Häuschen macht keine Fortschritte, der Dachstuhl fehlt. Wäre es doch wenigstens möglich, für die Kinder wieder ein anständiges Haus zu haben. Wir wohnen ja so armselig und wüst.

2. Mai 1945: Langsam geht dem Kriegsungeheuer das Schnaufen aus. Hitler soll tot sein. Wäre doch die Welt um seine Geschichte ärmer.
29. August: Könnte ich doch etwas von Seppl hören.
17. September: Mir ist zum Verzweifeln.
21. Oktober: Heute Post von Seppl. Er ist in britischer Gefangenschaft. Ich will ihm sofort schreiben. Er muss wissen, dass wir auf ihn warten.
12. November 1945: Bald sind es vier Wochen, seit ich von Seppl gehört habe. Während schon viele entlassen sind, muss Seppl immer noch hinter Stacheldraht als Gefangener sitzen. Wie notwendig wäre Seppl daheim. Wie mühselig schlage ich mich mit dem Bau des Häuschens durch. Käme er doch bis wir einziehen. Bis am 1. Dezember wollen wir einziehen, am liebsten würde ich morgen schon anfangen.

Unterdessen hat nämlich der Bürgermeister persönlich den Dachstuhl mit dem Fuhrwerk zum Häuschen gebracht und montiert. Beim Bürgermeister ist Mathilde hoch angesehen, auch durch ihren Mut und ihr Anpacken. Einzelne Soldaten beginnen, sich vom Krieg abzusetzen. Diese verstecken sich im Wald ob Esthal im Gebüsch, vielleicht auch in Höhlen. Mathilde sammelt im Dorf Decken und Esswaren für sie. Das ist streng verboten, denn: Zuerst sind diese Männer Deserteure der Hitlerarmee und dann aber auch Gefangene der Alliierten.

Der Einzug ins Häuschen kann pünktlich stattfinden! Leider ohne Seppl.
9. Dezember: Unsere Kinder sind so glücklich darin. Ich mag ihnen das kleine Paradies gönnen. Und wenn wir erst mal noch in unserem Garten arbeiten können. Wir düngen ja so fest mit unseren Nachttöpfen. Wie es platscht!
Aber dann das Kraut! Ich bin jetzt schon stolz auf den Erfolg!
23. Dezember: Nachts ½ vor 12 Uhr: Seppl ist heimgekehrt. Nun soll es Weihnachten werden.

Krieg zu Ende – Elend und Armut bleiben
Als Seppl eintrifft, trägt er abgelaufene Schuhe, mit einem Stück Autoreifen als Sohle. Er schleppt sich müde durchs Dorf, das ihn schon erwartet. Die Dorfjugend eilt ihm voraus, empor zum weissen Häuschen und künden Seppl an. Es dauert noch eine Weile, bis er sich ins neue Haus hinauf gekämpft hat.
24. Dezember 1945: Es weihnachtet sehr in und um das weisse Häuschen. Wir haben die Schweizerfahne aushängen. Gibt es glücklichere Menschenkinder als wir. Alle Sorgen schütteln wir für Tage weit von uns.
29. Dezember: Das alte Jahr ist zu Ende. Viel haben wir erlebt. Aber etwas ist schön, dass Seppl daheim ist.

Mit dem Jahresbeginn gerät Mathilde Riede wieder in eine tiefe Depression:
1. Januar 1946: Wir haben nichts mehr als unsere Kinder.
15. Januar: Mit jedem Tag wird es aussichtloser, trüber und trauriger. Wir ersehnen nichts mehr als endlich unsere Ruhe im Grabe. Für mich noch mein einziger Trost. Schlafen.
Am 30. Januar 1946 beklagt sie sich über diejenigen, die heute Politik machen. Sie nennt sie klägliche schmutzige Kreaturen. Und dann wörtlich:
Als Staatsoberhäupter müsste jedes Land einen Niklaus von der Flüe besitzen.
21. Februar: Seit Jahren der erste Geburtstag von Seppl als Familienfest. Wir sollten froh sein, können aber nicht. Wir sind sehr bedrückt.

Und während der Stickarbeiten fragt sie sich: Wer ist schuld? - Wir! - Weil wir der Gerechtigkeit nicht beistehen! Wir müssten gerade Menschen werden. Wir bräuchten Staatsmänner ohne Eigennutz, solche wie Bruder Klaus.

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Und dann ist er vor uns: Bruder Klaus. Der Behang zeigt die Lebensstationen: Links das Haus in Sachseln, seine Familie, als Ratsherr, als Bauer, als Richter, als Soldat. Rechts als Suchender auf dem Weg Richtung Norden und zurück ins Ranft. Und dann in der Mitte seine Kernbotschaft der Friedenssuche in der Tagsatzung und in seinen Friedens-Botschaften, Niklaus und seine eindrückliche, hagere Gestalt.

28. April: Es geht immer näher an meinen Geburtstag. 40 Jahre alt. Stellt euch vor! 40 Jahre alt. Die beste Zeit meines Lebens ist dahin. Was blieb übrig? In Ludwigshafen ein Schutthaufen. - Kein Geschäft. - Keine Aussicht. –– Deutsche. Musste ich doch dieses Wort immer hassen. Wir sitzen im Dreck. Wie schön war es daheim. Warum sieht man das immer zu spät?

Ja, auch wenn der Krieg zu Ende ist, das Elend besteht weiter, ja es verdichtet sich. Da ist Seppl. Im Mai 1946 bemüht er sich um eine Arbeit und erkundigt sich über die Handdruckerei im Stoffdruckbereich. Doch können sich die Menschen neue Tücher leisten?
19. Juli: Bald ist mir alles Wurst. Seppl ist ja auch sehr gleichgültig. Er macht sich keine Sorgen um uns. Offenbar schläft Seppl länger als Mathilde: Wie ich die Schläfer hasse. Menschen ohne Schmalz und Schwungkraft.
Offenbar überzeichnet Mathilde, gestresst und entkräftet vom Erlebten, ihren Mann. Auch er ist ausgelaugt durch das Geschehen und das Gesehene und kann halt auch nicht mehr hundert Prozent bringen.
2. August: Zeige mir doch einen Weg. Den rechten Weg. Zeige ihn auch Seppl.
Dann ist da auch der stets all gegenwärtige Hunger: Das Brot reicht nicht mehr. - Dieses Hungern ist abscheulich. – Keine Kartoffeln, keinen Käse und nur wenig Butter. - Sollen die Kinder leben? - Wieder gekürzte Brotration. – Es ist einfach furchtbar, wie man ständig mit dem Hungergefühl im Magen herumläuft. – Wir werden verhungern.

Mathilde und Josef versuchen, den Hunger wenigstens etwas zu lindern:
Aus Rüben bereiten sie zuckerhaltige Melasse, einen Zuckerdicksaft.
Aus Kartoffelschalen stellten sie Küchlein her. Aus Buchnüssen pressen sie Salatöl (7 kg Buchnüssen ergeben 1 l Öl - Wikipedia). Beide Kinder haben Mangelerscheinungen. Der Sohn erinnert sich in einem Buch an ihre Wasserbäuche. Vor allem aber leidet die 10 Jahre alte Gabriele. Ihre Bronchien bereiten ihr böse Atemnöte.

Schweren Herzens beschliessen die Eltern am 20. November 1946, sie mit Hilfe einer Krankenschwester in die Schweiz zu schmuggeln. Diese Krankenschwester überzeugt die Grenzbehörden, dass das keuchend atmende Mädchen neben ihr in Basel dringend eine Spritze erhalten müsse, die es in Deutschland nicht gäbe. Nach längerem Beraten lassen die Beamten die Beiden durch. Gabriele wird von ihrer Tante Elisabeth in Empfang und in Obhut genommen.

Drei Monate später wollen Mathilde, Josef und Urs die Elisabeth und Gabriele über die grüne Grenze sehen. Als Urs seine Schwester auf der Schweizer Seite erblickt, stürmt er kurzerhand unter dem Schlagbaum hindurch zu ihr. Somit sorgt Elisabeth Brenner-Hurt, die Schwester von Mathilde Riede-Hurt für die beiden Kinder. Diese Lösung treffen die in Deutschland zurückbleibenden Eltern nicht leichten Herzens. Sie vermissen ihre Kinder schmerzhaft. Doch sie wissen auch, dass die Beiden nun nicht verhungern müssen.

Kampf um die Rückkehr
Und dann ist da noch etwas. Mathilde will seit dem Kriegsende in die Schweiz zurück und das Schweizer Bürgerrecht wiedererlangen. Wie es ihr ergeht, hält sie im Behang „Flueh“ 1947 fest. Erkennen wir die Mumpfer Fluh? Das Dorf? Den Rhein? Die Eisenbahnbrücke? Alles verfremdet! Böse Fische schwimmen bedrohlich im Fluss. Die Grenzbarriere ist unten, davor wartet Mathilde auf einem Boot. Der Eintritt wird ihr verwehrt. Was soll das? Sie erkennt ihr Dorf, ihre Heimat nicht mehr. Sie steht vor Fremdem, auch wenn es die Schweiz ist.
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Schon anfangs 1946 stellt sie einen Antrag für die Einreise in die Schweiz und zur Wiedererlangung des schweizerischen Bürgerrechts. Am 15. April geht sie zu den französischen Behörden und erkennt: Die Sachen sind liegen geblieben.

Bald ist ihr 40. Geburtstag, wie schon erwähnt. Weitere Kämpfe stehen ihr bevor.

7. Mai 1946: Heute schreibe ich nochmals ans Schweizerkonsulat. Jetzt will ich wissen, woran ich bin. Vielleicht bleibt auch dieser Brief unbeantwortet. Es soll mir niemand mehr kommen. Überall derselbe Mist.

15. Juli: Noch warte ich auf meine Ausreisegenehmigung. Alles liegt bereit bis auf den Stempel der Franzosen. Mein Leben ist ein grosses hartes Ringen.
18. Juli: Mit meinen Papieren ist immer noch nichts.
19. Juli: Wären wir doch in der Schweiz. Hätte ich doch nie meine Staatsbürgerschaft verloren.
27. Juli: Heute war ich in Neustadt wegen meinen Passangelegenheiten. Die Sache scheint doch einem Ziele näherzukommen.
1. August 1946: Für mich ein stiller aber grosser Feiertag. Meine Heimat. Verlorene Heimat.
10. November: Vielleicht kommen unsere Pässe bald.
20. November 1946: Übrigens hat das Schweizer Konsulat wieder geschrieben. Wenn ich noch Optimist sein könnte, würde ich glauben, die Passgeschichte werde jetzt dann enden. Aber ich bleibe Pessimist und weiss, dass alles nicht gehen wird.

4. Februar 1947: Heute war ich bei den Franzosen in Neustadt. Was wird mit meinen Papieren? Vielleicht, dass es bis im März doch klappt. Es sind ja so viele, die in die Schweiz wollen.
20. Februar: Brief an Konsul. Gestern war Herr und Frau Demuth da. Wir feierten den neuen Behang „Flueh“ und es war recht schön. Frau Demuth ist ein ungemein feines Wesen. Ich stehe neben ihr wie eine Kuh, eine Landpomeranze aus Mumpf.

12. April: Heute bekam ich mein „laissez passer“. Vor lauter „endlich“ weiss ich nicht was tun.
20. Juli: Seit dem 15. April 1947 bin ich daheim. Nein, ich bin nirgends mehr daheim. Ich sehe viele Steine. Keine Herzen. Vollgefressene Menschen. Stumpfe Gesichter.

Die schmerzliche Heimkehr
Sie hat also das „laissez passer“. Das weisse Häuschen in Esthal wird verkauft, Mathilde und die Kinder wohnen in Basel, Josef bezieht eine Wohnung im nahen Lörrach.

Heimgekehrt ist sie per Bahn in einem Viehwagen mit vernagelten Fenstern. Sie erhält die Genehmigung, sich in Basel-Stadt aufzuhalten. Doch hier findet sie vorerst keine Unterkunft, jedoch in Oberwil, Basel-Land, bei einer Freundin. Prompt handelt sich Mathilde eine Verzeigung und eine Strafe ein.

Sie erhält an der Frauenfachschule in Basel vorerst ein paar Aushilfsstunden, 1953 dann ein Vollpensum. In diesem Jahr baut sie sich ein kleines Häuschen auf dem Jakobsberg.

Was sie seit dem Kriegsende besonders beschäftigt: Das Schweizer Bürgerrecht wird ihr verweigert. Sie kann die Absagen nicht verstehen und schimpft über die Behörden. Als Hemmschuh erweist sich ihr Mann. Er als deutscher Soldat erhält ohnehin keine Einreise bewilligt. Und solange sie mit ihm verheiratet ist, ist und bleibt sie Deutsche und erhält kein hiesiges Bürgerrecht. Nach vergeblichen Einbürgerungsversuchen geben die Beiden eine „Proforma-Scheidung“ ein. Wenn es nicht so traurig wäre, könnte daraus fast eine Schildbürgerposse werden.

Das Protokoll des Mumpfer Gemeinderates vom 3. Dezember 1947 hält nachträglich die Scheidungsgründe fest. Mathilde saugt sich haarsträubende Dinge aus den Fingern, zu intim, um sie hier zu nennen. Auch Josef erdenkt sich Beschimpfungen aus, die Mathilde gegen ihn ausgestossen haben soll. Doch die herbeigelogenen Gründe werden anerkannt!

Die Scheidung wird durch das Landesgericht Frankenthal am 14. April 1947 verfügt.

Zu ihrem dritten Einbürgerungsgesuch schreibt der Gemeinderat Mumpf am 3. Dezember 1947 an das eidg. Justiz- und Polizeidepartement:
„Hierorts ist bekannt, dass die Gesuchstellerin sich mehrmals abschlägig über uns Schweizer und unsere Einrichtung geäussert hat. Der Gemeinderat nimmt an, dass sich Frau Riede darüber reuig ist, jemals eine solche Einstellung gehabt zu haben und kann deshalb die Wiederaufnahme ins Schweizer Bürgerrecht empfehlen.“

Im Schreiben des Gemeinderates vom 4. Dezember 1947 an das kant. Justidepartement tönt es dann etwas anders: „Ihre Einstellung während der Glanz- und Siegeszeiten des Dritten Reiches gegenüber uns Schweizern gibt der Minderheit des Gemeinderates volle Berechtigung ihrer Einstellung.“

Der Gemeinderat hat also die Wiedereinbürgerung vermutlich nur mit 3 zu 2 Stimmen befürwortet. Im selben Brief schreibt der Gemeinderat: „Trotzdem die genannte Frau Riede geb. Hurt mehrmals Zeugnis davon gab, keine Spur von Schweizersinn und Schweizerempfinden mehr zu besitzen und sich sogar über unser Schweizerwesen und unsere Tradition lächerlich machte, entschied sich der Gemeinderat mehrheitlich und einzig nur aus Pietätsgefühl unserer ehemaligen Mitbürgerin gegenüber, die Rückbürgerung zu befürworten.“

Am Bettag 1948 erhält sie die Schweizer Staatsbürgerschaft zurück!
Wir sind wieder Schweizer! Herrgott ich danke dir! Der steilste Weg ist nun zurück gelegt. Noch ist ein steiniger Fussweg vor mir. Doch auch diesen muss ich mutig gehen. Lieber Gott, gib mir Segen und Kraft.

31. Oktober 1948: Heute war ich an Mutters Grab in Mumpf. Ich besuchte Herrn Triebold. Alt-Ammann Kaufmann war auch dabei. Merkwürdig, ich war die Einzige, die nichts an Fricktalertum verloren hatte und dennoch war ich eine Fremde in meinem eigenen Dorf. Was ging alles verloren?

So sieht sie mit ihren eigenen Augen ihr Heimatdorf. Ihr Heimkommen sehen die Behörden mit andern Augen an.

Die Wiedererlangung des Bürgerrechts war für Mathilde auch finanziell von Bedeutung. Als ihr Vater starb, wurde ihr Erbe von der Schweiz „eingefroren“. Der Mann ihrer Schwester Elisabeth, Hans Brenner, einstmal Lehrer in Mumpf, Bruder des Ankerwirts Oskar Brenner, reklamierte das ganze Erbe für seine Frau Elisabeth, also Mathildes Schwester. Er bezichtigte Mathildes Mann als Spion und setzte alle Hebel gegen die Wiederabgabe des Bürgerrechts an Mathilde in Bewegung, auch beim Gemeinderat. Erfolglos, wie es sich jetzt zeigte. Sein Bruder Oskar Brenner stand auf Mathildes Seite.

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Die Abrechnung mit dem Hitler-Regime
Seit 1942 spürte Mathilde Riede ein starkes Verlangen, mit den „verdammten Nationalsozialisten“ und mit dem „Halunken Hitler“ auf ihre Weise abzurechnen. Erste Skizzen und Entwürfe entstehen. Ihre Vorstellungen sind im Frühling 1946 so weit gediehen, dass sie schreibt: Am Montag 24. März begann ich mit meinem Behang „Abrechnung“. Das Leinenstück misst 186 Zentimeter in der Höhe und 120 Zentimeter in der Breite, gestickt auf diesem Rahmen.

Natürlich muss Mathilde wie auf jedem ihrer Behänge eine genaue Einteilung vornehmen. Sie zeichnet mit einem Stift alle Motive auf den Leinenstoff. Dann spannt sie ihn auf den Rahmen und setzt zu ihren Stichen an.

Das Werk ist gegliedert in sechs Friese. Im obersten Fries stellt sie Hitler in neun Personen als Verführer dar. Zuhinterst steht Hitler als Maler, der im Nachttopf aus Scheisse braune Farbe anrührt, während er sich die Nase zuhält. Die Farbe dient dazu, um Hemden braun einzufärben.
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Im zweiten gehen Göring und Göbbels als Anführer der verhexten Kriegskolonne an vorderster Stelle. Die Kolonne erinnert an den Rattenfänger von Hameln.
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Der dritte Fries zeigt das angerichtete Chaos mit den Bomben: Ruinen, Flüchtende, Tote, Einäugige. Mathilde reiht sich ein im Zug der Entwurzelten, mit ihren beiden Kindern.
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Im vierten Fries sehen wir die Heimkehrnot der Überlebenden, mit militärisch ausgerichteten Krücken. Einbeinige und Blinde sind mit Tapferkeitsorden behangen.
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Der fünfte Fries zeigt Verwüstung, Hunger und Tod, Kälte, Hilflosigkeit, das ganze Elend als Endstation des Krieges.
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Im letzten Fries zeigt Mathilde Riede die Enttarnung der Anführer: Maskenträger, Grossmäuler, Propagandisten, Kirchenleute, Gerichte, Juristen, Ingenieure. Wir sehen gespaltene Köpfe als Zeichen der zwischen Krieg und Frieden gespaltenen Menschheit.
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Später bezeichnet sie ihr Hauptwerk als „Hexeneinmaleins“. Im Kunstmuseum Basel wird es - leider tief im Keller - in einer Schublade gelagert. Anlässlich der Ausstellung in Mumpf 2014 durften wir dieses Werk ausstellen, neben 30 anderen bedeutenden Werken
von Mathilde Riede.

Goethe lässt in seinem Schauspiel Faust von Mephisto in die Hexenküche führen, um für ihn unter den Worten des Hexeneinmaleins einen Verjüngungstrank brauen zu lassen.

„Du musst verstehn! Aus Eins mach’ Zehn,
Und Zwei lass gehn, Und Drei mach’ gleich,
So bist Du reich. Verlier’ die Vier!
Aus Fünf und Sechs, So sagt die Hex’,
Mach’ Sieben und Acht, So ist’s vollbracht:
Und Neun ist Eins, Und Zehn ist keins.
Das ist das Hexen-Einmal-Eins!“

Der Spruch ist ja Unsinn, und doch fallen viele Menschen auf grössten Unsinn herein. Wieviele sind auf Hitler hereingefallen.

Ihr weiteres Leben
Es bietet ihr viele Gelegenheiten, um Widerstand zu leisten gegen Behörden, Politiker, Kunstbanausen, aber auch Gelegenheit viele Kunstwerke zu schaffen zur Natur, zu Heiligen, zu Heimatbräuchen, zum Rhein. Mathilde wechselt, weil die Finger nicht mehr wollen, zu Stoffapplikationen, satirischen Zeichnungen, politischen Versen.

Mathilde Riede-Hurt ist eine starke, eigenwillige, aneckende, mutige, aussergewöhnliche Persönlichkeit, herausgewachsen aus unserem Fricktal und geprägt durch ihr Leben in den schweren Zeiten zwischen 1934 bis 1948. Wir sollten sie nicht vergessen.

Dieser hier leicht angepasste Artikel erschien 2018 in der Jahresschrift „Vom Jura zum Schwarzwald“ der „Fricktalisch-Badischen Vereinigung für Heimatkunde“.


Quellen:
- „Hungertücher“, Bildteppiche MRH, von Urs-Nikolaus Riede und Wolfgang Roth
- „Mit Masken desmakiert“, Satire und Verse der Künstlerin, von Wolfgang Roth
- Tagebuch der Künstlerin (Zitate daraus sind kursiv/fett gehalten)
- Gemeinderatsprotokolle Archiv Mumpf
- Gesprächsauszüge aus Begegnungen mit Gabriele Roth in Kirrweiler, Spiez und Mumpf
- wikipedia.ch
- sikart.ch
- kunstbreite.ch

Autor:
Gerhard Trottmann

Des Sigristen Lohn zu Mumpf 1563

Der Sigrist ist ein Kirchendiener. Er wird auch als Sakristan, Küster oder Mesmer bezeichnet. Er hütet und pflegt die liturgischen Materialien wie Gewänder, Kreuze und Kelche, bereitet Bücher und Liedertafeln für die Gottesdienste vor und bedient das Glockengeläute. Früher brachte er das geweihte Wasser zu den Leuten nach Hause und begleitete Priester bei Verseh-Gängen.

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In Mumpf lag das Sigristenamt oft in den Händen der schlecht bezahlten Schulmeister, so dass sie sich noch ein paar Batzen zusätzlichen Verdienst verschaffen konnten. Im Mittelalter gab es vor allem Naturalien, also Lebensmittel als Entlöhnung für seine Kirchendiener-Arbeit. Während Hunderten von Jahren und bis kurz vor 1800 war die Äbtissin des Klosters von Säckingen für alle kirchlichen Belange von Mumpf zuständig. Sie bestimmte die Pfarrer, die für ihre Dienste täglich den Fussweg vom Kloster Säckingen dem Rhein nach bis zur Fähre zurück zu legen hatten. Die Fähre brachte ihn dann direkt zur Kirche.

Die Äbtissin bestimmte auch über die baulichen Veränderungen der Kirche und die weiteren Kirchenämter. So auch zum wichtigsten Kirchendiener, dem Sigristen. Der Historiker Anton Zeller hat im Badischen Generallandesarchiv Karlsruhe Unterlagen aus dem Jahr 1550 gefunden. In alter Schreibweise hatte damals der kaiserlich öffentliche Notar Joannes Züger auf Pergament folgendes geschrieben:
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Demnach hatte er jedes Jahr aus jeder „Ee“, Ehe oder Familie, zwei Viertel Dinkelkorn nach dem damaligen Rheinfelder Mass zugute.

Jeden Karsamstag brachte der Sigrist das an jenem Tag geweihte Taufwasser zu den Familien in die Häuser. Als Entgelt erhielt er einige Eier.

Auch bekam er aus jedem Haushalt im „Kirchspiel“, also der Pfarrei, zu Weihnachten und Pfingsten einen Laib Brot.

Und schliesslich gibt es die eigenartige Bestimmung, bei der Beerdigung eines Fremden die Kirchenglocken zu läuten. Als Entgelt dafür erhielt er dessen Schuhe oder Stiefel, egal, ob der Mensch „gut oder böse“ war.

Weitere Entschädigungen scheint der Mumpfer Sigrist für seine Arbeit keine erhalten zu haben, wir doch klar geschrieben, dass er an den Kirchengütern keine Nutzungsanteile besitzt.

Quellen:
- Badisches Generallandesarchiv Karlsruhe, Berain Nr. 7179 (Säckingen)
- Karte: General-Landesarchiv Karlsruhe
- „Vom Jura zum Schwarzwald“, FBVH-Heft 1931

Autor:
Gerhard Trottmann

Aus dem Leben von Emilian Güntert

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Vorwort:
Im Februar 2021 gelangte die Familie Monika und Markus Bitterli-Güntert mit der Frage an mich, ob ich an den handschriftlichen Aufzeichnungen ihres Urgrossvaters Emilian Güntert interessiert sei.

Eine erste Sichtung ergab, dass von den 208 Seiten rund die Hälfte seiner Schilderungen (Seiten 1 bis 98) an seine ersten zwanzig Lebensjahre mit seinem Aufwachsen in der Heimatgemeinde Mumpf und seiner auswärtigen Ausbildung erinnern.

Der Rest der Einträge (Seiten 99 bis 208) betreffen seine andern Lebensstationen in Olsberg, Rümikon und Möhlin-Riburg, Familienereignisse, gesundheitliche Herausforderungen, finanzielle Nöte, sowie politische und gesellschaftliche Geschehnisse während seines Ruhestandes.

Emilian zeigt sich in den Aufzeichnungen als sehr sensibler Mensch. Nach dem Tod seiner Gattin muss er viele Kräfte frei machen, um das Leben weiter meistern zu können. Besonders berührt hat mich, wie sich das Nachlassen seiner Kräfte im Schriftbild auf den letzten Seiten zeigt.

Dank Emilian Güntert sind wir in der Lage, am täglichen Leben in der Zeit zwischen 1854 und 1875 hautnah dabei zu sein.

Kurzfassung zum Leben des Emilian Güntert
  • Geboren am 7. Dezember 1854 als Sohn des Lehrers und Organisten Daniel Güntert.
  • Primarschule in Mumpf (5 Jahre)
  • Bürgerschule in Säckingen bis September 1870
  • Von Oktober 1870 bis anfangs 1872 Ausbildung zum Anstaltslehrer in der Anstalt Bächtelen in Wabern, Kt. Bern. Diese Ausbildung wurde 1872 nach einem Vorfall aufgehoben.
  • 1872 bis 1875: Ausbildung zum Lehrer am Lehrerseminar Wettingen
  • 19. Mai 1875: Eintritt in den Dienst des Erziehungsheimes in Olsberg als Lehrer. Allerdings fühlt er sich hier nicht glücklich, weil die Erziehungsmethoden der Anstalt nur von Peitsche und Abschreckung geprägt sind anstatt einer liebevollen Zuwendung.
  • 1875 wird er in den Militärdienst einberufen.
  • Am 11. Januar 1877 kann er seine neue Stelle an der Schule Rümikon bei Zurzach antreten.
  • Im Frühling 1883 übernimmt er an der Schule Möhlin-Riburg eine Schulabteilung. Er wohnt wieder in Mumpf bei seinen Eltern, denen er eine wichtige Stütze ist.
  • 14. April 1884: Heirat mit Elise Wunderlin aus Wallbach, Tochter des dortigen Lehrers. Wohnsitz in Möhlin-Riburg.
  • 16. März 1885: Geburt des Sohnes Alfred
  • 2. Mai 1886: Geburt der Tochter Elisa
  • 29. Jänner 1890: Tod seines Vaters
  • 30. März 1926: Letzter Schultag in Riburg nach 51 Jahren aargauischem Schuldienst.
  • 7. März 1927: Seine Frau Elise stirbt im Spital Rheinfelden.
  • 1934 feiert er seinen 80. Geburtstag.
  • 24. September 1940 Todestag
Emilian Güntert und Elisa Güntert sitzend, die Kinder Alfred und Elise stehend.
Aufnahme Carl Sevecke, Rheinfelden, um 1910
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Ahnenfolge

Christoph Güntert und Elisabeth Schmid

Bernhard Güntert und Walburga Kienzlin
Cajus Güntert, 14. Februar 1820 - …
Daniel Güntert, 24.11.1821 – 29.1.1890
Martin Güntert, 12. März 1824 - …

Daniel Güntert, 1821 – 1890 und Sophie Baumgartner, 1826 – 1910
Edwin Oskar Güntert, 1. Juni 1850 – ...
Philemon Traugott Güntert, 25. Januar 1852 – ...
Emilian Güntert 7. Dezember 1854 – 24. September 1940
Blanka Güntert, 31. Mai 1858 – ...
Orpha Güntert, 30. August 1861 – ...
Josefa Güntert, 26. März 1863 – ...

Emilian Güntert, 7.12.1854 – 24.9.1940 und Elisa Wunderlin
Alfred Güntert, 16. März 1885 – 1944
Elise Güntert, 2.5.1886 – ...

Alfred Güntert, 1885 – 1944 und Martha Büechli 1887 - 1987
Dorli Güntert 1912 - 2003
Hans Güntert, 1918 – 1999
Helene Güntert 1928 - 2016

Hans Güntert, 1918 – 1999 und Ruth von-Euw 1926 - 2020
Peter Güntert, 1946
Monika Bitterli-Güntert, 1951


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Aus meinem Leben (Seiten 1-98), von Emilian Güntert
Ich wurde geboren den 7. Dezember 1854 im schönen Dörfchen Mumpf am Rhein. Mein seliger Vater hiess Daniel Güntert, die Mutter Sophie Baumgartner. Sie war der letzte Sprosse Baumgartner in Mumpf, mit ihr losch dieses Geschlecht aus. Der Vater hatte noch vier Brüder, diese überlebten ihn bis auf einen. Die Mutter hatte nur einen Bruder, der später
auf den Lohnberg bei Zutzgen zog, wo er sich ein kleines Hofgut erwarb. Dorthin zog er dann mit Frau und Kindern. Ich hatte noch zwei Brüder, der älteste hiess Oskar, der zweitälteste Philemon Traugott, dann hatte ich noch drei Schwestern, die jünger waren als ich. Die älteste hiess Blanka, die zweitälteste Josefine. Die jüngste hiess Orpha, der Bruder Oskar ist im
68. Lebensjahr an einem Schlaganfall gestorben, Philemon starb schon vor dem 30. Jahre an einer Kurzkrankheit, die jüngste Schwester starb schon im ersten Lebensjahr. Es leben also von unserer Familie gegenwärtig nur noch die zwei Schwestern zu mir, welche beide Witwen mit Kindern sind.

Mein Heimatort Mumpf war von jeher ein schönes Dörfchen. Mitten durch dasselbe zieht sich die alte Landstrasse Basel-Zürich. Wahrscheinlich diente sie schon den alten Römern, wurde doch oberhalb des Dorfes gegen Stein hin vor vielen Jahren nahe der jetzigen Strasse ein sogenannter Meilenstein mit eingemeisselten Ziffern und Buchstaben ausgegraben, nach Aufzeichnung meines sel. Vaters.
image003(Ausschnitt aus der Lithografie 1881 „Panorama von der Mumpferfluh“)
image004(Aus dem Buch „800 Jahre Mumpf“, 2018, Seite 13)

image005(Ausschnitt aus Generalplan 1858 Archiv Gemeinde Mumpf)
Links und rechts von der Landstrasse, die von jeher in gutem schönem Zustande war, sind Haus an Haus gebaut, selten Gärten dazwischen, früher etwa Düngerhaufen vor den Häusern. Jetzt sind diese „Misthaufen“ alle von der Strasse verschwunden, sie sind hinter dieselben gebracht. Diese Ortsverschönerung sieht man selten in einem Bauerndorfe, es ist dies zum grössten Teil dem ehemaligen Oberst Josef Waldmeier zur „Sonne“ zu verdanken, der hierzu Rat und Geld gab. Von der Landstrasse ab führen südwärts drei Nebenstrassen, von denen links und rechts wieder Wohnhäuser stehen. Alle drei Nebenstrassen steigen ziemlich steil an.

Nordwärts vom Dorfe fliesst der wunderschöne Rhein hin, der eben das Dörfchen auch noch aufschönen hilft, dann rezitiere ich gar oft jetzt noch in Gedanken jenes alte schöne Gedicht:
Ich lieb das schöne Örtchen,
wo ich geboren bin.
Hier blühte mein junges Leben
von Lieben rings umgeben
in immer heitrem Sinn. ...

O guter Vater droben
beschütz den Heimatort
und segne ihn mit Frieden,
viel Gutes sei beschieden
der Heimat fort und fort. ...

Mitten im Dorfe, nördlich der Strasse steht die alte Kirche mit Kürbissenturm, darauf turnen jeden Sommer die Zunft der Langbeiner. Sagten doch dazumal, als ich noch ein kleiner Knirps war, einige Offiziere, die den Berg hinunter gegen das Dorf zogen neben ihren Pferden: Man merkt es, dass man nun im Fricktal ist, dort oben zeigen sich ihre Störche.

Mitten im ehemaligen Gottesacker steht die Kirche. Schon seit vielen Jahren ist aber der Friedhof westlich vom Dorfe angelegt. An der alten Friedhofmauer gegen den Rhein hin ist ziemlich hoch oben eine Tafel angebracht, worauf die Rheinhöhe vom Jahr 1852 angegeben ist, welcher Wasserstand seither nie mehr erreicht wurde. Mitten im Rheine, etwa dem
jetzigen Pfarrhaus gegenüber, ragt ein Fels oder Stein fest aus dem Wasser bei tiefem Wasserstand. In diesem Fall wird dann jeweils von Mumpfer
Schiffern ein Tännchen mit flatternden Bändern befestigt, dies ist vom Ufer aus prächtig anzuschauen.

Das Dörfchen war früher meistens von Schiffern und Flössern bewohnt. Fast jeder Hausbesitzer besass auch einen Waidling, kleines Ruderschiff, alle waren am Ufer des Rheines mit Ketten angebunden. Jung wie Alt stand gern am Rheine und schaute dem Wassern zu. Wir Leute waren mehr am Rheine und im Sommer im Rhein als bei unsern nützlichen Arbeiten. Oberhalb des Dorfes hatte der Rhein eine Art Kanal, dort badeten wir fleissig. Es ist aber dort auch eine sichere Stelle zum Baden, denn soweit ich mich zurück erinnere, ist im Rheine von jungen Leuten weder Knabe noch Mädchen ertrunken.

image006(Symbolbild aus Wikipedia)
Die Fischer und Schiffer bildeten eine Zunft, so die von Mumpf und Wallbach. In Stein waren nie Schiffer, wohl aber wieder in Sisseln und Laufenburg. Die Zunft Mumpf-Wallbach war gut organisiert mit einem Präsidenten und einem Kassier. Fast jeder stimmfähige Bürger in Mumpf war Mitglied der Zunft, diese allein hatten das Recht einen Floss zu führen auf dem Rheine nach Basel.

Ein Floss bestand aus lauter Tannenstämmen. Die untere Schicht Stamm an Stamm, abwechselnd das dickere und das dünnere Ende neben einander gelegt. Vorn und hinten quer darüber wurde ein Stänglein in die Stämme mit Eisenhaken befestigt, damit die Stämme nicht auseinander rutschen konnten. Mitten über den Floss wurde noch ein dickes Flossseil, ein 3-4 cm dickes Hanfseil geschlungen zur Befestigung. Hinten hatte der Floss zwei Ruder, vorne eines. Das Ruder bestand aus einer etwa 5 m langen Stange, hinten daran war ein 2 m langes, 4 dm breites Brett angenagelt. Die Stange lag zwischen zwei starken Holzstäben, die in einem Stamme senkrecht befestigt waren und verbunden mit Weiden. Das Ende der Stange hatte zwei Griffe, der eine senkrecht eingeschlagen, der andere waagrecht. Der Flösser am vordern Ruder hatte das Floss mehr zu steuern, die hintern zwei hatten dasselbe zu treiben. Bei ganz tiefem Wasserstand waren aber vorn auch zwei Ruder, im ganzen somit vier. Derjenige Flösser, der nun die sogenannten „Kehre“ hatte, musste seine zwei Mitfahrer bestimmen. Einer ging mit ihm nach Sisseln, Säckingen oder Murg, wo der Floss gemacht
wurde, und denselben zu holen, natürlich zu Fuss dorthin in aller Frühe. Der dritte Mann hatte in Mumpf, wenn Flösser aus Mumpf die Regie hatten, am Ufer Ausschau zu halten und sobald der Ruf vom Flosse aus erschallt: „Dritte Ma ufe“, so wurde dieser dritte Mann in seinem Waidling zu dem Flosse geführt. Jeder Flösser hatte ein Handbeil, einer auch einen grösseren Bohrer, und ein dünneres Seil nachzutragen.

Ich durfte zweimal als kleiner Bube eine Flossfahrt von Mumpf nach Basel machen. Es war dies aber nur, wenn Vater die „Regie“ hatte. Eine schöne
interessante Fahrt ist eine Flossfahrt, besonders bei mittlerem Wasserstand. Unterhalb Wallbach war das kleine „Gewild“, wo die Wellen zwischen den Stämmen des Flosses herauf spritzten. Bei Beuggen im Badischen begann das grosse „Gwild“. Bei der Kirche vorbei zog jeder Flösser seinen Hut oder sein Käpplein herunter, faltete die Hände und sprach ein stilles Gebet, denn jetzt galt es, das Fahrzeug sicher zwischen Felsen und Steinen hindurch zu leiten, damit der Floss nicht zerrissen oder an einem Pfeiler der Rheinbrücke zerschellt wurde. Mir wurde zugerufen: „Büebli sitz uf die oberste Tanne und zieh Bei a“, denn jetzt spritzten die Wellen mannshoch zwischen den Tannenstämmen herauf, so dass man doch etwas vernässt wurde. Von Rheinfelden an war eine recht schöne ruhige Fahrt bis Basel. Oft musste ein Floss in Kaiseraugst schon landen und dort warten, bis in Basel wieder Platz frei war. Das dünkte mich bei einer solchen Flossfahrt gar schön, wenn die beiden Flussufer rheinaufwärts sprangen und ich so stillstehend mich auf dem Floss befand. In Basel kamen oben an der alten Rheinbrücke, es war ja dazumal nur eine Brücke über den Rhein, zwei Schiffer von Basel entgegen. Unterhalb der jetzigen Kaserne wurde der Floss gelandet. Ein grosses Seil wurde vom Ufer aus auf den Floss geworfen. Dasselbe wurde um Stämme geschlungen. Vom Floss aus wurde auch ein Seil an das Ufer geworfen und dieses um eingerammte Pflöcke geschlungen und der Floss so nach und nach zum Hafen gebracht. Hier stiegen wir alle aus. Es ging zur Wirtschaft des Herrn Glaser, der dann auszahlte. Der die Regie hatte, bekam meines Erinnerns Fr. 15.-, jeder andere Flösser 11 Fr. Von Basel fuhr man mit der Badischen Bahn bis Rheinfelden. Dort wurde noch eingekehrt im „Salmen“, wo man noch eine hölzerne Wendeltreppe empor steigen musste und in eine altertümliche Stube trat. Von Rheinfelden ging es zu Fuss nach Hause, denn die Bötzberglinie war noch nicht eröffnet.

Eine andere Merkwürdigkeit auf dem Rheine war noch der Salmfang bei Nacht. Zwei Fischer sind im Waidling. Vorn an demselben, nahe über dem Wasser ist ein kleiner Eisenkorb befestigt. Darin wurde ein Feuer unterhalten mit Kienspänen. Ein Fischer sitzt hinten im Waidling und dirigiert das Fahrzeug, der andere steht nahe beim Feuer. Er hält an einer langen Stange eine Art Gabel mit 4 Zinken, die Widerhaken haben. Der Lachs nähert sich dann dem Feuer und wird nun mit der Gabel angestochen und in das Schiff gezogen. Das war vom Ufer aus schön anzuschauen, denn dieser Fischfang wurde nur in einer stockfinsteren Nacht während des
Winters vorgenommen.
image007(Sequenz aus dem Film „Lachsfang“ Dorfmuseum Mumpf)

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(Aus Fotosammlung Dorfmuseum Mumpf)
Es wurde auch gefischet bei trübem Wasser mit einem grossen Netz, „Ausländgarn“ genannt. Dieses wurde von einem Waidling aus von zwei Fischern nach und nach in den tiefen Rhein ausgeworfen, dann wieder eingezogen. Ein anderes Netz war der sogenannte „Wadlef“ (Anmerk.: Garnreuse). Dies waren mehrere Netze in einander gereiht, das äusserste am weitesten, das innerste am engsten. Der Fisch, der darein gerit, fand den Rückweg nicht mehr. Dieser „Wadlef“ wurde am Ufer durch zwei Stecken festgemacht, am Abend „gesetzt“ und am Morgen heraus gezogen. Am Schweizer- und am Badischen Ufer waren im Winter auch Lachsstände errichtet, wo durch Lockfische Lachse in eisernen Netzen gefangen wurden, oft meterlange Exemplare mit 40 - 50 Pfund Gewicht.

Ich sah in meiner Jugend auch wie die Drahtseilfähre bei Mumpf errichtet wurde. Am Schweizer Ufer wurde ein sogenannter Bock aus hohen dicken Stämmen erstellt, zuoberst eine Rolle, darüber lief das Drahtseil, das aus Drähten geflochten, 3 - 4 cm dick ist. Hinter dem Bock ist eine Walze mit zwei Hebeln, womit das Drahtseil von Zeit zu Zeit angezogen wird. Bei der Überführung des Drahtseiles an das Badische Ufer waren alle Schiffer aufgeboten. Die Waidlinge waren im Rheine verankert. Nun wurde an das Drahtseil ein kleineres Hanfseil befestigt und dieses von einem Waidling zum andern geworfen bis zum badischen Ufer. Nun wurde mittelst dieses Teiles das Drahtseil hinüber gezogen. Dort wurde ein Eisenpflock in den Boden gerammt und das Drahtseil in dem Boden befestigt.
image009(Foto aus „23. Säckingen-Stein-Mumpf, e. Fähre von Mumpf“, Bundesarchiv Bern)

Ich war auch dabei, als die Pfarrkirche die dritte Glocke erhielt. Wir Schulbuben durften diese Glocke vom Wagen aus auf den Turm ziehen mittelst eines Seiles. Alt und Jung erfreuten sich an diesem Akt. Die älteren Herren standen in Frack und Zilinder da. Denn ich erinnere mich noch gut, dass in den 60ger Jahren besser situierte Männer an Sonn- und Feiertagen immer im schwarzen langen Rock und Zilinder kamen. Mein Vater trug das nie. Alle Männer trugen dazumal noch Hemden mit Kragen aus einem Stück. Um den Kragen wurde gewöhnlich, besonders an Sonn- und Feiertagen, ein schwarzes seidenes Tüchlein geschlungen. Mein Vater erhielt jeden Neujahrstag von einer reichen Familie Tschudy ein solches Halstuch zum Geschenk.

In meinem 6. Lebensjahr erlebte ich den ersten Schrecken. Das Gasthaus zum „Bad“ brannte mitten in der Nacht. Natürlich holte mich meine Mutter aus dem Bett und zog mir das Höslein an und trug mich zur Brandstätte. Mein Vater streifte über den einen Ärmel ein weisses Armband mit rotem Kreuz. Es muss also dazumal schon eine Art Samariterverein bestanden haben. Ich habe dieses Armband öfters noch in seinem Schreibpult gesehen. Auch nahm er bei jedem Brandfall einen Sack mit. Es wurde eigentümlich „geflökt“ bei diesem Brand. Viele Sachen wurden kurzerhand zu den Fenstern hinausgeworfen, sogar Spiegel und Bildertafeln. Das Badhaus stand auf nämlicher Stelle, wo jetzt das Gasthaus zum Anker steht. Diesem gegenüber am Rheinbord stand das Badehäuschen, wo an Sonntagen gebadet und geschröpft wurde. Es wurde das Badhaus meistens von Frauen besucht, behufs Heilung rheumatischer Leiden. Ihre Männer warteten unterdessen geduldig oben im Wirtshaus, bis ihr Gespans zurückkehrte und beide dann noch ein Schöpplein nahmen. Als man nun das Fundament zum jetzigen Gasthaus aushob, stiess man auf dicke und viele Mauern, eine Wasserleitung zum Teil unter die Nachbarhäuser. Das Ausgraben wurde lange fortgesetzt und blossgelegt viele Mauern und Strassenteile. Viel Volk bewunderte dieses Mauerwerk, wurde aber bald wieder eingedeckt. Denn man kannte damals noch keine Altertumsforscher und Heimatschützler.

Mein Geburtshaus war das nächste Haus oberhalb des Gasthauses zur „Glocke“, unterhalb der Dorfstrasse, unmittelbar am Bache. Hinterhalb der Wohnung war ein Schopf, in dem und auf dem wir Scheiter und Wellen aufgeschichtet hatten. Einmal schickte mich die Mutter auf das „Läubeli“, ihr einen Korb voll Holz zu holen. Ich ging flugs mit demselben, denn ich war gewohnt den Eltern schnell zu folgen, darum war ich auch stets, in Wahrheit, der lieben Mutter Liebling geworden. Wie ich so meinen Korb mit Holz füllte, hörte ich Buben dem Bach entlang gegen den Rhein hinunter springen. Ich rief denselben noch, hing dabei zu weit über die Scheiterbeige hinaus und stürzte etwa 4 m tief in den Bach hinunter, aber mit dem gefüllten Korb voran, so dass mich dieser vor zu schwerem Fall schützte. Kinder haben ihren Schutzengel, heisst es.

Der Bruder meiner Mutter wohnte in den 60ger Jahren auf dem Lohnberg, wo ein Weiler jetzt noch ist. Dort hatte er sich ein kleines Hofgut erworben, das liegt wohl eine Stunde von Mumpf entfernt. Wir drei Brüder wanderten oft hinauf um etwas dort zu holen oder hinzutragen. Wir machten uns aber fast jedesmal erst Nachts auf den Heimweg, denn es dünkte uns gar lustig, so bei dunkler Nacht durch den finstern Wald hinunter zu springen. Wir führten uns aber sorglich, damit keiner von uns zu Fall kam oder gar verloren ging. Bei dem Hofe des Vetters war auch ein sogenannter Sodbrunnen, wie es jetzt noch solche hat, denn Quellen gibt es dort nicht. Quell- oder Trinkwasser holen sich jetzt noch die Höfler am untern Abhang des Lohnberges gegen Zuzgen hin. Ein Sodbrunnen besteht aus einem bis 10 oder mehr Meter tiefen kreisrunden Loch. Oben steht eingerammt auf zwei Randseiten ein Pfosten, darüber liegt eine kleine Walze, darum eine Kette gewunden. Am Ende der Kette ist ein schweres Gefäss befestigt, das unten ein Eisenbeschläge hat. An dieser Kette wird der Kübel in den Sodbrunnen hinunter gelassen, wo er mit dem dort gesammelten Regenwasser gefüllt wird. Dann wird das Gefäss mittelst der Walze, die an jedem Ende einen Hebelarm hat, herauf gewunden.

Der Vetter, der ein etwas unruhiger Bürger war und nicht sehr gern schaffte, wanderte dann, da ich etwa 6 Jahre zählte, nach Amerika aus. Auf einen Tag oder vielmehr Nacht wanderten sechs Familien von Mumpf nach Amerika aus. Diese mussten mit wenig Fahrhabe und Lebensmitteln am Morgen schon von Basel aus weiter fahren. Die Auswanderer mussten darum in der Nacht vorher schon per Fuhrwerk nach Basel gebracht werden. Ich erinnere mich noch ganz gut jener Nacht. Alle Häuser waren beleuchtet, Strassenbeleuchtung gab es noch nicht. Die Emigranten wurden auf Leiterwagen mit ihren Habseligkeiten geladen. Da gab es ein Abschiednehmen, Weinen, Jammern. Die Leute brachten noch dies und jenes, bis die Fuhrwerke abziehen mussten. Eine Eisenbahn gab es damals bei uns noch nicht. Die Auswanderer brauchten dazumal auch noch volle 6 Wochen, bis sie im neuen Weltteil landen konnten. Ebenso brauchte ein Brief von oder nach dort viele Wochen. Der Brief kostete 50 Rappen.

Eine weitere Erinnerung aus meiner frühesten Jugend ist Weihnachten. In Mumpf hatte bloss die Familie Waldmeyer zur „Sonne“ sich diesen „Luxus“ gestattet. Kinder erhielten ja jenesmal an Weihnachten wenig oder gar keine Geschenke. Eines Abends sagte die Mutter zu uns drei Buben: Heute Nacht kommt das Christkind und bringt Euch etwas, wenn ihr brav seid. Wir sassen alle drei neben einander auf die Kunst nur im Hemdlein. Die Vorhänge waren noch nicht gezogen, wir wohnten nämlich im ersten Stock, nicht Erdgeschoss. Da auf einmal fuhr etwas Weisses an dem Fenstern vorbei. Wir drückten schnell die Augen zu und getrauten uns nicht mehr aufzublicken. Da kam die Mutter herein und sagte: Das Christkind ist vorbei, was hat es Euch wohl gebracht? Sie öffnete das Fenster und brachte drei Tellerchen, auf denen „Chrömli“ aller Art lagen, auch „Fürstei“ dabei, solche hatte die Hausiererin im Erdgeschoss unseres Hauses feil. Noch viele Jahre bestand unser Weihnachtsgeschenk nur in einem Tellerchen voll Guetzeli bestehend in Backwerk von unserer Mutter. Ein Weihnachtsbäumchen sah ich erst viele Jahre später auf unserm Stubentisch, als meine zwei Schwesterchen etwas nachgewachsen waren. Aber Spielsachen oder gar Kleidungsstücke für eines der Kinder gab es nie, denn bei uns hiess es gar oft: Kein Geld mehr! Sei es manchmal auch für nötige Lebensmittel oder gar Kleider. Denn der Vater hatte ja, wie wir noch klein waren, eine Jahresbesoldung von 1000 Fr. Die Mutter musste manches kaufen aus dem Erlös von Butter oder Milch. Für ein Pfund Butter zahlte man damals 80 Rp. bis 1 Fr. und 1 Fr. 25 Rp. Ein Mass Milch (1 ½ l) galt 15 Rp. Dagegen war das Brot immer teuer, 1 Laib bis 1 Fr. Von Pate oder Patin erhielt man das Jahresgeschenk erst am Neujahrstag, ebenfalls kleine Gabe, etwa einem Wecken mit 1 Fr. erhielt ich von der „Gotte“, vom „Götti“ ein Paar Hosenträger. So fielen die Geschenke von dazumal gering aus, doch war man zufrieden damit.

image010(Aus Fotosammlung Dorfmuseum Mumpf)
Wenn ich jetzt gerade an kirchlichen Feiern bin, möchte ich noch erwähnen, wie es dazumal in Mumpf in der sogenannten Karwoche, zwischen Palmsonntag und Ostern gehalten wurde. Am Hohen Donnerstag begann die Trauerzeit. Am Karfreitag und Samstag schwiegen die Glocken. In der Kirche wurde mit Holzklappern das übliche Zeichen bei der Messfeier gegeben statt mit Schellen. Der Chor der Kirche war verfinstert, aller Altarschmuck weggenommen. Zu den Seiten der Altarbilder waren je vier farbige mit Wasser gefüllte Kugeln: rot, blau gelb, grün, aufgestellt. Dieselben waren beleuchtet mit einer Öllampe. Das Altarbild stellte Jesus im Grabe dar. Dasselbe war bewacht von struppigen, bärtigen, finster blickenden Männern. So hatte das Ganze einen melancholischen Anblick. Den ganzen Charfreitag bis Samstag abends wurde in der Kirche abwechselnd gebetet. Am Samstagabend war die Auferstehungsfeier. Am Schlusse des Gottesdienstes erhob der Pfarrer die Monstranz, wendete sich gegen die Gemeinde und sang den Satz: Der Heiland ist auferstanden! Nun waren der Jugend aller Augen nach dem Altar gerichtet, denn in demselben Augenblick wurde das aufgerollte Bild des erstandenen Heilandes, der ein kleines rot und weiss bemaltes Fähnchen in der Hand hielt, mittelst einer kleinen Walze hinter dem Altar nach und nach ganz langsam über das vorige Altarbild empor gezogen und befestigt. Das war ein erhebendes Schauspiel für uns.

Wir hatten einen älteren Mann als Siegrist. Der machte fleissig so kleine Kaubewegungen mit den Lippen. Wir sagten dann zueinander, wenn wir ihn so „müffeln“ sahen, er kaue wieder „Kerzenstümpen“, die er vom Altar weggenommen. Jeden Sonntagabend war eine Gebetsstunde in der Kirche, „Rosenkranz“ geheissen. Wir Kinder durften diesen nie versäumen. Der Siegrist leitete ihn und kniete zuvorderst in der ersten Bank. Er legte aber jedesmal das Löschförmchen neben sich. Dies war ein 2 - 3 m langer Stecken, oben daran ein trichterförmiges blechernes Gefäss und ein Köpfchen daran. Damit wurden die Altarkerzen angezündet und abgelöscht. Mit diesem Löschförmchen zwickte er dann und wann während des Betens diejenigen, welche etwa Allotria trieben. Jeder Bube suchte nun in nächster Nähe des Siegristen zu kommen, denn er wurde so weniger zum Possentreiben verleitet und auch weniger von der Zuchtrute getroffen.

Wenn im September der Hanf „Werch“ reif war, so wurde er ausgezogen und auf Matten ausgebreitet bis die Stengel dürr waren. Dann wurden sie in Bürden zusammen gebunden und nach Hause in den Schopf gebracht. Vom Oktober an wurden die Hanfstengel gebrochen „gereitet“ und die Bastfasern von Hand vom Stengel abgezogen. Da musste Alles mithelfen, Eltern und Kinder, es gab keine Fahnenflucht. Die Stengelstümpen füllten bald Küche, Gang und Stube. Das „Wärch“ wurde von der Mutter eingesammelt und dann in einen grossen dicken Zopf geflochten. Das Flechten nahm sie auf dem grossen Stubentisch vor. Dabei durfte eines von uns auf den Zopf sitzen. Wenn der Zopf fertig geflochten war, zog die Mutter denselben mit dem darauf Sitzenden in grossem Bogen herunter, natürlich hielt sie mich bei einem Ärmchen. Wenn aller Hanf „gereitet“ war, und das dauerte viele Tage, denn wir pflanzten jedes Jahr ein grosses Stück Hanf, wanderten die Zöpfe in die Handreibe. Eine solche war eingerichtet in der Mühle in Mumpf. Da war ein kreisrundes Steinbett bis Brusthöhe, zuoberst ganz glatt, etwa zwei Meter im Durchmesser. Mitten darin stand ein runder Mast, daran war ein Arm aus Eisen, dieser steckte in einem Stein, der die Form eines abgestumpften Regals hatte, aussen der dickere Teil. Dieser Stein hatte aussen einen Durchmesser von 1 m. Wenn nun durch Mutterkraft die Walze in Bewegung gesetzt wurde, waren schon etwa 3 Hanfzöpfe auf das Steinbett gelegt und der rollende Stein sauste über die Zöpfe. Eine Person stand immer dabei und kehrte den Hanf fleissig. Dabei musste sie aber beständig auf der Hut sein, damit nicht etwa ihre Finger statt die Hanffasern gequetscht wurden. Wenn nun der Hanf gut weich gerieben war, kam der „Hächler“ an die Arbeit. Dieser zog die Hanffasern durch ein kleines 2 - 3 dm langes, 1 ½ dm breites Gestell. Auf einem Brettchen standen ziemlich dicht in einander Stricknadel dicke 2 dm hohe Stahldrähte, die nach oben spitz ausliefen. Durch diese „Hächel“ zog er Büschel um Büschel die Hanffasern, dadurch gab es feine Fäden. Die längern wurde „Reiste“ geheissen, die kürzern „Zöckli“. Diese beiden Sorten wurden nun von Frauen und Mädchen am Spinnrad gesponnen. Da waren in unserer Stube immer 2 solcher im Winter in Tätigkeit, eines von meiner Mutter, das andere von der Grossmutter. Dabei sangen sie oft zweistimmig alte, bald fröhliche, bald sentimentale Volkslieder wie zum Beispiel „Im
Röseligarten kannst du meiner warten“ etc oder „Rosmarin und grüne Blätter“, „Spielet auf ihr Musikanten“, „Im Aargäu sind zweu Liebi“, und noch andere. Die Grossmutter sang Sopran, sie hatte noch in ihrem hohen Alter eine feine reine Stimme, das „Sopherli“, meine Mutter sang die Altstimme. Wir Kinder sassen am Tische und machten unsere Hausaufgaben oder horchten auf den Gesang. Wenn der Hanf gesponnen war, wurde er auf einem Haspel aufgewunden. Er hiess nun Garn. Die längeren Fasern, die „Reiste“ gab das feinere Garn, die kurzen, die „Zöckli“ das gröbere. Nun wanderte das Garn zum Weber.

In Mumpf gab es zu meiner Zeit keine solchen mehr, aber in Obermumpf. Dieser wob das Garn, aber im Einschlag noch Lammwolle oder sogenannte Neffelgarn darunter. Das gewobene Tuch war noch grau und ruch. Nun wurde es gebleicht, entweder durch Naturbleiche oder mittelst Chlorkalk. Wenn das Tuch gebleicht war, wurde es verwendet zu Leintüchern oder Handtüchern, anderes wurde ich die Färberei geschickt. Aus dem gefärbten Stoff wurden Anzüge für Bett und Kopfkissen gemacht. Solche selbstgepflanzte und zubereitete Stoffe besitze ich jetzt noch. Sie halten länger aus als gekaufte Stoffe. „Wärch“ wird jetzt auch wieder mehr gepflanzt.

Der Flachs wurde nicht „gereitet“, weil die Stengel zu dünn sind. Die Stengel wurden „gerätscht“, wohlverstanden ohne Mundwerk, sondern mit der Flachsbreche auch von Hand, nachdem die Stengel gehörig durchwärmt wurden. Die übrige Verarbeitung geschah wie beim Hanf. Der daraus gewonnene Stoff wurde zu weissen Kopftüchern für die Frauen, für Nastücher, Tischtücher, Hemden, auch Bettzeug verwendet. Die Frauen und auch Mädchen trugen dazumal selten Hüte am Werktag, mehrteils weisse Tücher, die das Ober- und Hinterhaupt deckten.

Mein Vater war, besonders zur Winterzeit, nach dem Nachtessen selten daheim. Nicht dass er etwa ins Wirtshaus ging, sondern in sein Schulzimmer. Das Schulhaus liegt ja kaum 20 Schritte von unserm Hause entfernt. Dort hatte er sich eine Kerze angezündet, korrigierte die Aufsätze und las dann in seinen Büchern, denn der Vater schaffte viele Bücher an. Nachher ging er zum Posthalter, wo noch ein dritter alter Bürger jeden Abend hinkam. Diese drei Männer machten dann noch einen Jass oder Binoggel, jedoch nur mit einem Einsatz von 2 Rappen.

In selbiger Zeit fuhr noch eine Postkutsche von Stein, durch Mumpf und Möhlin bis nach Rheinfelden. Am Postwagen waren 2, oft aber auch 4 Pferde angespannt. Am Morgen um 8 - 9 Uhr kam sie von Rheinfelden her, am Abend nach 8 Uhr von Stein. Am Abend blies der Postillon jedesmal ein Lied auf seinem Posthörnchen, wenn er durch das Dorf fuhr. Das war schön anzuhören, besonders im Winter, wenn es schon lange „Nacht“ war. Wir Kinder wollten dann immer erst ins Bett, wenn der Postillon geblasen hatte.

In meinen Kinderjahren rief der Nachtwächter noch die Stunden von verschiedenen Stellen des Dorfes, gewöhnlich nach je 2 Stunden. Einmal kamen wir 3 Brüder von der Nachtwache nach Hause. Es war punkt 12 Uhr. Da hörten und sahen wir den Nachtwächter in seinem blauen Militärmantel und Kappe mit einem dicken Knotenstock vom Schulhaus herunter gegen die Dorfstrasse stolpern. Da sagten wir: den wollen wir jetzt einmal in der Nähe hören. Wir sprangen gegen ihn zu und stellten uns vor ihn hin. Da stellte er sich in strammer Positur und rief mit mächtiger etwas trübseliger Stimme: „O hört, was ich Euch will sage, die Glogge hat zwölfi gschlage, zwölfi gschlage.“ Dann aber sagte er barsch zu uns: „Wo chömed ihr här, Buebe? Machet ass er hei is Bett chömet!“ Wir entschuldigten uns damit, wir seien auf der Nachtwache gewesen, gingen dann aber flugs heim. Der Nachtwächter war jede Nacht im Schulhaus in einem besonderen Kämmerchen, worin er auf einer Pritsche schlief, dort brannte auch die ganze Zeit ein Öllicht. Der Nachtwächter hatte dann auch im Winter die Schulzimmer zu heizen.

Unser Schulzimmer hatte einen braunen viereckigen Kachelofen. Die Schulbänke waren vierplätzig. An den Wänden hingen ein Ölbild der zwei Pfarrherren Vögeli und Rüegg. Von Veranschaulichungs-Lehrmitteln wie Zählrahmen oder gar Lesetabellen war noch nichts zu sehen. An den Wänden hingen noch zwei Landkarten: Europa, Schweiz, glaube kaum eine Aargauerkarte. Trotz der wenigen Bilder und Anschauungsmittel lernten wir doch lesen, schreiben, rechnen, was jetzt doch noch im Leben die Hauptsache ist.

Zuoberst im Schulhause war ein grosses, ganz leeres Zimmer, dahin schütteten wir im Herbst unser gepflücktes Obst. Wir hatten viele Obstbäume, besonders haltbares Spätobst. Bis zum Frühjahr konnten wir vom Schulhaus herunter Obst holen. Das Schulhaus hatte noch ein Arbeitsschulzimmer für Mädchen und das Gemeinderatslokal,
daneben das Archiv. Zuunterst waren nebst der Wächterkammer 2 Arrestlokale, in die wir von der Nebenstrasse aus auch hineinguckten, wenn diese beherbergt waren. Von einem Turnplatz war noch keine Rede, Turnen wurde überhaupt nicht erteilt, es figurierte nicht unter den Lehrfächern.
image011(Aus Fotosammlung Dorfmuseum Mumpf)

Der Vater war, solange ich bei ihm die Schule besuchte, Gesamtlehrer. Er hatte immer 8 Klassen, oft mit 80 - 90 Kindern zu führen. Jedes Vierteljahr erhielt er auch seine Besoldung mit 250 - später 300 Franken. Der Schulfondverwalter brachte ihm den „Zapfen“ selber und ziemlich rechtzeitig.

Ein Ereignis war für uns auch die Jahresprüfung. Vorher wurden zwei Tannenbäumchen je links und rechts vom Schuleingang aufgestellt mit Kränzen geziert. Das Schulpult war geschmückt mit Blumen und einem Kranze. Man hielt selbiges Mal noch recht viel auf einer Schulprüfung, es war dies auch ein gutes Zeichen der Bevölkerung. Der Schulinspektor war ein würdiger, stramm daher schreitender, grosser Pfarrherr Herzog von Wegenstetten, gebürtig von Möhlin. Wir Schulkinder hatten Ehrfurcht, aber auch Liebe zu ihm. Nach der Schulprüfung standen bei der Post, die ganz nahe beim Schulhaus ist, zwei grosse hohe Körbe voll letztjähriger Äpfel. Sobald die Schüler das Schulhaus verliessen, wurden vom Posthalter oder deren Frau die Obstkörbe umgestülpt und die Äpfel verteilten sich auf Hausplatz und Strasse. Wir Schulkinder stürzten nun über die Äpfel her, jedes suchte natürlich so viel als möglich von den guten Dingerchen zu erhaschen. Ein anderes Prüfungsgeschenk gab es nicht.

Während meiner Schulzeit wurde ein einziges Jugendfest gefeiert und zwar mit der Schule von Wallbach auf dem „Kapf“, das ist eine Anhöhe oberhalb der Mühle Mumpf, östlich von der Obermumpferstrasse. Dabei blieb der Schulpflegspräsident von Wallbach, Bezirksrichter Kaufmann schon am Anfang in der Festrede stecken.

Mit der erwähnten Nachtwache verhielt es sich so: Wenn eine erwachsene Person in der Gemeinde gestorben war, so hielten die Nachbaren, nächsten Verwandten und Bekannten die Nachtwache in der Wohnstube des Verstorbenen. Das gab gewöhnlich eine ganze Stube voll. Da wurde gebetet auswendig oder nach einem Gebetsbuch. Dazwischen gab es wieder Pausen, in denen geplaudert wurde. So um 10 Uhr gab es etwas z’Nüni: Wein und Brot. Most wurde nicht aufgetischt, es gab eben weniger Most als Wein. Die meisten Nachtwachen gab es darum Vormitternacht, wegen dem z’Nüni, Nachmitternacht wurden die Ersteren abgelöst durch andere Beter, da gab es schon weniger, weil es nicht mehr zu trinken gab. Die Verstorbenen wurden, wie jetzt noch in Mumpf, von 4 Männern oder Jünglingen, wenn es eine ledige Person war, auf den Gottesacker getragen. Auch die Leichen von Wallbach wurden dahin getragen. Erst als die Gemeinde Mumpf einen neuen Friedhof unterhalb des Dorfes erhielt, bestellten auch die Wallbacher für ihre Gemeindeangehörigen einen eigenen Friedhof. Diese Veränderung geschah in den neunziger Jahren.

Der Verkehr und Handel war noch sehr einfach. Da noch keine Bahn fuhr, musste durch Fuhrwerke alles geholt und versandt werden. Es kam in der Woche ein gewisser Horlacher von Brugg mit seinem grossen Pritschenwagen, oft auch ein zweiter angehängt, von 4 schweren Pferden bespannt, durch die Gemeinden des Fricktals längs der Landstrasse bis Basel. Jeden Donnerstag kam er von Brugg her über den Bötzberg nach Basel. Im Gasthaus zur „Sonne“ in Mumpf machte er Mittagsrast, auf dem Rückweg ebenfalls. Am Samstag kam er dann von Basel her. Wagen und Pferde hatten Glöcklein. Das war für uns auch wieder ein Ereignis, weil ja sonst wenige Fahrzeuge zu sehen waren, ausser zur Herbstzeit bei der Obsternte und Weinlese.

Pferde hatten dazumal bloss die Gasthofbesitzer zum „Bad“, „Adler“ und „Sonne“. Denn es war oft Vorspann nötig für den Steiner „Stich“ und die Möhliner „Höhe“. Über diese letztere Anhöhe wollte aber von Mumpf niemand gern zur Nachtzeit Vorspann leisten, wegen dem „Fritz Böni Geist“ auf der Höhe. Gar mancher wollte diesen schlimmen Gesellen gesehen haben, auch Flösser, die von Basel her noch spät in der Nacht heimkehrten. Von Letztern kann man dies begreifen, da sie ja sehr ermüdet waren von dem langen Marsch oder dann noch zu tief ins Glas, nicht Fernrohr geguckt haben. Item. Alle kamen heil vom Fritz Böni fort. Einem Fuhrmann rannten einmal, der Vorspann geleistet, seine 2 Pferde querfeldein bis in den Wald „Kiesholz“ hinunter, wo sie plötzlich stehen geblieben und der Reiter erwachte, aber den bösen „Geist“ hat er nicht mehr gesehen.

Freuden brachte uns, wie jetzt noch, der Winter. Wenn tiefer Schnee lag, hatten wir prächtige Schlittelwege, so einer von der Obermumpferstrasse bis zur Landstrasse hinunter wohl 1 km lang, andere kürzere Bahnen zweigten davon ab. Nur erster Schlittweg bot für uns oft ein Hindernis, indem etwa ein Anwohner der Strasse drohte, uns den Schlitten zu zerschlagen, wenn wir nicht aufhören würden. Aber wir schlittelten
weiter. Ich habe schon manche Dorfjugend bedauert, die keine schönen Schlittelwege besitzt, wie z.B. Möhlin. Ski waren damals noch nicht geboren, ebensowenig Schlittschuhe. War es gefroren, konnte man auf dem Rhein glitschen „schliefern“, denn es war ungefährlich, weil der Wasserstand ganz gering war. Franz Waldmeyer zur „Sonne“ holte sich Eisblöcke aus dem Rhein und brachte diese in seinen neu erbauten Eiskeller beim Gasthaus.

In damaliger Zeit gab es noch grosse ausgedehnte Weinberge. So hatten Zeiningen, Magden, Olsberg, Obermumpf, Wallbach und Mumpf ein grosses Rebgebiet. Wir hatten 3 Äcker mit Weinreben, ein Stück lag westlich der Strasse von Mumpf nach Zuzgen, die andern zwei Stücke lagen an der „Katzenfluh“, eines am obern Abhang, das andere tiefer unten gegen den Bach hin. Darum können wir alle Wein trinken. Aber so ein Stück Reben gibt während des Jahres recht viel Arbeit. Zu meiner Jugendzeit wurde aber diese anstrengende Weinbergsarbeit auch wirklich bezahlt. Man konnte sehr oft Wein verkaufen, so auch wir und dann hatten wir das ganze Jahr vollen Rebensaft im Keller, nicht angemachte Ware. Wir konnten so 5 - 6 Saum (1 ½ hl) einkellern. Arbeit gab es vom Frühling bis in den Herbst hinein. Schon im März wurden die Reben beschnitten, dann das Grundstück mit Karst behackt. Letztere Arbeit war schwer, da der Boden viel Letten mit Kalk hat. Am untern Ende eines jeden Grundstückes wurde quer durch ein ca. 3 dm tiefer und 4 dm breiter Graben aufgeworfen. Das so ausgeworfene Erdreich mussten meistens wir Kinder mit Hutten (Tragkörbe) und Körben zuoberst in das Grundstück tragen. Bis zum Herbst waren dann die Gräben doch wieder vom herunter geschwemmten Erdreich ausgefüllt. Diese Arbeit nannte man „Vorfälli“ tragen. Während des Sommers musste man fleissig die unnötigen Schosse von den Reben wegnehmen und Grund und Boden öfters behacken.

Wenn die Trauben bald reif waren, wurde das Betreten des Weinberges verboten. Nur jeweils am Samstag durfte der Rebbesitzer in sein Grundstück, um die nötigste Arbeit vorzunehmen. Der ganze Weinberg war während dieser Verbotzeit streng bewacht. Durch Gemeindebeschluss wurde nun der „Herbstet“ oder das Traubenlesen bekannt gegeben. Da gab es nun eine freudige Zeit, besonders für uns Kinder. Am nächsten Morgen schon wurden die Standen, Zuber, „Bücki“ (Tanse) gesäubert, Messer und Rebscheren geschliffen. Die Standen und Bütten (Bottiche) wurden auf grossen und kleinen Wagen fest gebunden. Wagen und Geschirr darauf mussten festhalten, da der Weg nach dem Weinberg steil und holperig war. Hinauf wurden Zugtiere angespannt, hinunter leitete man den beladenen Wagen selbst. Im Weinberg gab es frohes Leben. Es wurde geschossen, gejauchzt und Trauben gegessen bis man satt war und dann sehr wählerisch im Beerenessen, aber auch „faul“ zur Arbeit. Dürre und faule Beeren musste man fein säuberlich daraus machen. Die gefüllten Zuber und Kessel wurden in das „Bücki“ geschüttet und das gefüllte von Vater oder Sohn auf den Wagen in die Standen geschüttet. Den ganzen langen Weinberg entlang standen Wagen an Wagen. Man ging erst heim, wenn das ganze Rebstück „gewimmet“ war. Da gab es nur kalten Tisch: Brot, Käse und Wein. Nun wurde der beladene Wagen ins Dorf hinunter zur „Trotte“ oder
Kelter geführt. Einmal wurde ein mit zwei gross gefüllten Bottichen Wagen bei einer Kehre umgeworfen und der Wagen samt der süssen Last in den Wald hinunter geworfen, so dass wenig Trauben mehr zu erhalten waren.

image012(Trottbaum, aus dem Buch „Mumpfer Heimatkunde“, 2014, Seite 67)
Die Trotte, die nun in Mumpf nicht mehr existiert, war ein grosser aus Eichenholz gebauter Schopf, die Gibel- und Seitenwände etwa etwa 2 - 3 m hoch gemauert. Die Trotte hatte oben einen Estrich, wo Stande um Stande standen für die eingebrachten Trauben. Im Erdgeschoss war links und rechts 1 m hoch vom Boden aus ein Trottbett, das oben mit Eichen-Flecklingen (Anm.: längliches Schnitt- oder Kantholz) belegt war. Mitten durch den Bau war ein 2 m breiter nur aus Erde getretener Weg. Die eine Hälfte des Trottbettes diente zur Aufnahme der zerstampften Trauben. Diese wurden kreisförmig ½ m hoch aufgeschichtet, dann mit Flecklingen und oben mit Querhölzern belastet. Der Trottbaum war ein behauener Eichenstamm, bis 1 m im Geviert. Er ruhte zwischen zwei Pfosten und lief schräg nach vorn. Dort stand ein senkrechter Pfosten, der unten in einem grossen Stein festgemacht war und erst noch mit Steinen beschwert. Oben hatte der Pfosten ein Gewind und der Trottbaum auch, der darin herauf und hinunter getrieben werden musste. Unten hatte dieser Pfosten zwei Löcher, darin steckten 2 runde lange Hebel. Mit diesen Hebeln wurde der Trottbaum empor gehoben. War das Trottbett mit Trauben aufgehäuft und kunstgerecht beladen, so wurde der Trottbaum mittelst der Hebel herunter gelassen. Bei diesem Anlasse suchten wir Buben schleunigst einen Platz auf einem Hebel, denn das ging schneller als bei einem Karussell im Kreis herum. Bei einer solchen Fahrt geschah es, dass ein Querhebel lose war und zu weit vorstand. Ich stand nicht weit weg, der Hebel versetzte mir einen Hieb auf die Brust, ich sank zu Boden. Alle hielten mich für tot. Ein Mann trug mich mit seinen Armen zum nächsten Brunnen und wusch mir Kopf und Brust. So viel wusste ich noch, aber dann nichts mehr, bis ich längere Zeit im Bette lag. Die liebe Mutter hatte, wie sie mir später sagte, das Bett mit weissen Leinen überzogen, denn es wurde ihr gesagt, sie brächten mich tot heim.

In der Trotte fanden wir Buben uns fleissig ein, denn es gab da Trauben zu essen und jedermann, der solche auspresste, gab uns auch von dem süssen Traubensaft zu trinken. Man nahm es in dieser Hinsicht nicht so genau. Wir konnten für uns daheim immer genug einkellern für das ganze Jahr, Wasser wurde keines zugesetzt, es gab also noch volles Hausgetränk. Oft konnten wir auch Wein verkaufen. Der alte Saum (150 l) galt dazumal 29 - 35 Franken.

In selbiger Zeit sah und hörte man längere Zeit Tag und Nacht Weinfuhren durchs Dorf, da von Basel aus im obern Fricktal Wein geholt wurde, da keine Eisenbahn existierte. Da geschah es oft, dass solche Weinfuhren in Mumpf übernachteten. Das benutzten einige schlimmen Kerle, steckten wenn Mann und Ross im Stall schliefen einen Schlauch oben in das Weinfass und leiteten diesen in eine grosse Korbflasche, die bereit gestellt und nachher in ein Nachbarhaus geschafft wurde. Ich habe nie von diesem Wein genossen.

Im Herbst galt es auch, das Getreide zu dreschen. Dies geschah aber noch mit Flegeln, nämlich mit leblosen aus Holz. Da kamen die Drescher schon vor Tagesanbruch zum Haus und fingen dann an zu dreschen, zu drei oder vier. Zum Morgenessen erhielten sie eine dicke Mehlsuppe und Milchkaffee. Z’Nüni gab es Wein, Speck, Brot, mittags tüchtige Hauskost, z’Obig wieder Wein oder Schnaps (voller), zum Nachtessen Suppe, frische Birnen und Kaffee. Es wurde bei Laternenschein noch gedroschen. Der Taglohn pro Mann betrug 80 Rappen. Wir hatten im Winter auch einen Kurzfutterschneider für das Vieh dann und wann zur Arbeit. Der kam von Wallbach her schon vor Tagesgrauen und schnitt bis in die Nacht hinein Heu, Stroh, Klee und verlangte pro Tag auch bloss 80 Rappen, später 1 Franken. Auf die Stör zu den Kunden gingen dazumal auch Schneider, Schuster und Schneiderin bei bescheidenem Tageslohn.

Als Beleuchtung im Hause gab es Öllämpchen, sogenannte Pumper, in denen man das Öl in das Lämpchen heraufpumpen konnte. Es war Öl von Lewat (Anm.: Raps), der in ganzen Äckern gepflanzt wurde. Wir hatten viele Jahre solche Ernte. Spätere Beleuchtungsmittel waren die Kerzen. Petrollicht kannte man erst später. Ich erinnere mich noch gut, wie mein Vater für unsere Stubenbeleuchtung die erste Petrollampe von Basel heimbrachte, als er dorthin einen Floss geführt hatte. Das Petrol war aber auch teuer, es kam das Öllicht billiger zu stehen. Doch konnte man bei der Petrolbeleuchtung besser sehen, man schonte also die Augen. Unsere Lampe war eine der ersten im Dorfe. Mit der Petrolbeleuchtung wurden dann einige Jahre später auch Strassenlaternen aufgestellt und mit Petrol gespiesen. In Küche, Scheune und Stall benützte man aber noch viele Jahre Laternen mit Öllicht. Nun leuchtet das elektrische Licht in der ärmsten Hütte und im prachtvollsten Palast, sowohl im Tal wie auf den höchstgelegenen Wohnungen. Unsere Schlafstätten daheim waren höchst einfach: Eine Bettstelle aus Tannenholz, zuunterst im Bett war ein Strohsack, der jedes Jahr einmal eine neue Füllung erhielt. Darüber lag ein Sack mit Spreu gefüllt, auf dem man aber auch gut schlief. Über diesen wurde ein Leintuch ausgebreitet. Ein Oberleintuch gab es nicht. Über sich hatte man auch ein Federdeckbett. Matratzen und Teppiche kannte man in jener Zeit nicht, solches gehörte zum Luxus. Im Winter, wenn es recht kalt wurde, hatte man zu Füssen im Bett ein Säcklein, das mit Kirschensteinen gefüllt und gewärmt wurde. Die „Chriesistei“ holte man bei einem Bauer, der Kirschwasser brannte. Wir drei Brüder schliefen in einer Kammer, die aber nicht geheizt werden konnte. Wurde es nun sehr kalt, so wurde zuhinterst im Viehstall ein Bretterverschlag errichtet und darin ein grosses Bett gestellt, worin wir Nacht für Nacht schliefen und zwar mit Vergnügen, es war warm, wir standen erst auf, als Vater oder Mutter uns heraus trommelten.

Brandfälle kamen in unserm Dorfe noch drei vor. Zuerst brannte unsere alte Wohnstätte nebst dem Nachbarhaus, da beide aneinander gebaut waren, ein Haus westlich vom jetzigen Elternhaus. Wir hatten daheim schon Vorkehren getroffen und die meisten Sachen zur Flucht bereit gestellt, blieben aber zum Glück verschont. Ein zweiter Brandherd bildeten auch wieder zwei Häuser, oberhalb der Dorfstrasse, südlich vom Dorfbrunnen beim Gasthaus zur „Glocke“. Endlich brannte auch der erste Bau der „Glocke“ nieder, wurde dann wieder neu erstellt.
image013(Aus Fotosammlung Dorfmuseum Mumpf)

Das Gasthaus zur „Glocke“ kam zur Berühmtheit durch die Wallbacher Kirchgänger. Die Bewohner von Wallbach waren ehedem kirchengenössig in Mumpf. Sie hatten somit das Vergnügen, jeden Sonntag nach Mumpf in die Kirche zu pilgern. Kam einer etwa zu spät dahin, so entschuldigte er sich damit etwa daheim: er habe im „Gloggehus“ noch Unterkunft gefunden. Dieses „Gloggehus“ ist der hinterste Teil der Kirche. Diese Nachzügler standen aber während des Gottesdienstes nicht dort, sondern sassen in der „Glocke“. Das Gasthaus zur „Sonne“ wird wohl das älteste in Mumpf sein. Daselbst wurde die berühmte französische Tragödin Rachel geboren. Alle vier Gasthöfe: Sonne, Glocke, Adler, Anker, hatten früher grossen Zuspruch von Fussgängern und Fuhrwerken Tag und Nacht, weil an der Landstrasse Basel - Zürich gelegen. Auch Wallfahrer von Frankreich und Elsass pilgerten besonders zur Sommerszeit fast jeden Tag durch unser Dorf, sie trugen graue aufgeschürzte Kleidung, höchst einfach in Mode. Wir Kinder bettelten sie an um eine „Mutter Gottes“. Solche brachten sie von Einsiedeln her, eine Madonna in Erde gemacht, kaum fingerlang und zwei fingerbreit. Solche Amulet teilten Pilgerinnen von Einsiedeln kommend unter uns Kindern aus. Männer sahen wir sehr wenige.

Öffentliche Anlässe gab es in meiner Jugendzeit in Mumpf nicht. Ein einziges Mal, soviel wie ich mich erinnere, wurde „theäterlet“ und das war das Stück „Genovefa“. Konzerte oder Abendveranstaltungen, noch viel weniger religiöse Familienabende, wie sie jetzt von christkatholischer, römischkatholischer oder protestantischer Seite abgehalten werden, wusste man gar nichts. Doch waren die Leute ebenso fromm, wie heutzutage, vielleicht noch frömmer im alten Sinn. Aber statt der Konzerte hörte man da und dort vor einem Hause von Mädchen und auch Knaben anständige Lieder der Heimat und des Vaterlandes singen, was man jetzt auf Dörfern nicht mehr hört, trotz der Verordnung von oben, dass alljährlich 4 Lieder in Text und Melodie in allen Schulen gesungen werden müssen, nein: unverschämte Gassenhauer erschallen bis in tiefe Nacht durch die Strassen.

Für Verschönerung des Dorfes wurde in früher Zeit sehr wenig aus gegeben. Die Häuser behielten Jahre lang ihren ersten Anstrich, gekünstelt wurde daran nicht viel. Auch die Wohnungen selbst behielten ihr altes Kleid: Böden aus breiten Tannenbrettern, die jede Woche, Samstags gefegt und mit feinem Sand bestreut wurden. Decke und Wände waren meistens vertäfelt, darum warme Stuben. Fast in jeder Stube stand ein Kachelofen, um denselben eine Holzbank, über derselben war in der Decke ein viereckiges Brett, das gehoben werden konnte. Durch diese Lücke schlüpfte man nachts in die obere Kammer, wenn man schlafen gehen wollte. Rings um den Ofen war oben ein Vorhang. Neben dem Ofen war die Kunst aus Kacheln. Darin wurde auch der Rest des Mittagsmahles gestellt, der dann zum z’Obig genommen wurde. Oder es wurden darin Äpfel, Birnen, Zwetschgen oder Kirschen gedörrt. Das Kerzen- sowie das Öllicht mussten von Zeit auf geputzt werden, nämlich der kohlende Docht mit der Lichtputzschere geschneuzt (Anm.: gekürzt).

Die Feldarbeiten wurden in meiner Jugendzeit alle mit der Hand verrichtet. Da gab es noch keine landwirtschaftlichen Maschinen. Im Heuet und Emdet da gab es viel zu mähen. Am Morgen von 2 Uhr an hörte man Mähder durch das Dorf nach dem Winterfeld gehen. Es wurde gemäht bis der Komplex sauber rasiert war. Inzwischen ein kräftiges z’Nüni. Am Nachmittag kehrte man mit Gabel oder Rechen das Futter. Am Abend machte man Schochen. Am andern Tag zerstreute man das Futter wieder. Wenn es dürr geworden, ging einer von uns heim und holte den Wagen mit den Kühen. Denn wohlverstanden, zu Ochsen oder Pferden haben wir es in unsern Verhältnissen nie gebracht. Zu Hause wurde das Heu beim Abladen noch von einem von uns tüchtig gestampft, was keiner sehr gern tat, denn die Hitze auf dem Heustock war fast unerträglich. Bei der Fütterung durfte aber das Futter nicht oben abgenommen werden, sondern es wurde mit einem sogenannten Heurüpfel heraus gezogen, Handvoll für Handvoll. Dieses Instrument bestand aus einem meterlangen Stiel aus Holz, vorn daran war aus Eisen ein Haken, ähnlich einem Angel, diesen steckte man in des Futter und zog ihn wieder zurück. Unter das Emd streute man beim Abladen das Stroh von der Gerste, damit es nicht zu schwer auf einander lag und sich weniger entzündete. In solche Emdstöcke hatten wir alsdann im Herbst auch aufgelesenes Obst gesteckt, denn es blieb gut erhalten und gab im Winter billige Zukost, zu unserm schmalen Zobig. Denn ich gestehe gern, dass wir oft hungerten. Denn das Brot war selbigsmal recht teuer: 1 Fr. - 1 Fr.20 Rp. der Laib. Wir mussten jedes Jahr vom Frühling an bis zur Ernte Brot kaufen, das war dann eine grosse Auslage für eine 7köpfige Familie, die alle gesund waren bei einer mageren Schulmeisterbesoldung.

Bei der Ernte wurde alles Getreide mit der Sichel geschnitten. Der Meister unter den Schnittern und Schnitterinnen hatte die Aufgabe, fleissig die Sicheln zu wetzen. War ein schöner Tag, so rückte am Morgen alles zeitig aus, mit Kind und Kegel, um den Getreideacker noch vor Abend niederzulegen. Damals trugen die Frauen ihre kleinen Kinder in einem länglichen Korb, Zeine genannt, auf dem Kopfe aufs Feld und heim. Kinderwagen kannte man in unserer Jugend noch nicht. Später wurde dann das Getreide auch mit der Sense abgemäht. Da begegnete mir wieder ein Unfall. Der Vater stellte die Sense an den Boden. Ich hatte ihm auf dem Acker etwas zu holen. Beim Rückweg sah ich nicht vor mich hin und rannte mit dem rechten Bein in die Sense. Das gab einen tiefen Schnitt bis auf den Knochen und noch in diesen. Die Mutter trug mich mehr als führen an den nahen Rhein hinunter, wusch und verband mir die Wunde, wonach sie mich heim brachte. Ich hatte manche Woche an diesem Übel zu leiden. Die Narbe des Schnittes ist jetzt noch recht deutlich unten im rechten Schienbein.

In meinen Knabenjahren waren jeden Sommer kirchliche Prozessionen. Damit gingen Kinder und Erwachsene. Auf dem Wege wurde immer gebetet. Wir Knaben beteten am kräftigsten, wenn es durch den Wald ging, da wir gerne unser Echo hörten. Diese Prozessionen gingen oft weit. Von Mumpf aus hatten wir jedes Jahr einen solchen Bittgang auf der Landstrasse bis auf die Möhliner Höhe, von da durch das Feld nach Wallbach und wieder nach Mumpf. Ein zweiter Bittgang war nach Obermumpf, ein dritter nach Wallbach, ein vierter durch den Wald, den Rebberg bis zur Katzenfluh hinauf. Jedesmal hielt der Pfarrer dabei eine Predigt. Man ging stets einer hinter dem andern am Rande der Strasse in zwei Reihen, so dass die Mitte der Strasse frei war. In dieser ging der sogenannte Stecklimeister, der unter der Jugend Ordnung halten musste. Es waren bei jedem Bittgang vier Haltstellen, wo der Pfarrer ein Stück des Evangeliums las und der Kirchenchor ein Lied sang. Bei einem solchen Halt riss ich bei dem Rande des Ackers eine Ähre ab, um sie zu zerreiben und die Kerne zu öffnen. Da kam ein Wallbacher Bursche herbei und versetzte mir eine Ohrfeige, dass mir Hören und Sehen verging. Diesen Rohling hatte ich aber stets im Gedächtnis.

War ein Mensch schwer krank, so dass man mit seinem Ableben rechnen musste, so spendet ihm der Pfarrer das letzte heilige Abendmahl. Dabei kam er in kirchlichem Ornat, ebenso der Siegrist oder Küster, letzterer trug eine brennende Laterne und ein Glöcklein. Kam ein Mensch in Sicht, so klingelte er und die betreffende Person kniete nieder und bekreuzte sich.
Auch wurden Wallfahrten unternommen. Von Mumpf aus fanden fast jeden Sonntag von einzelnen Personen solche Pilgerfahrten statt zum hohen Kreuz, zwischen Schupfart und Wittnau. Auf dem Buschberg stand ein Kreuz, um dasselbe waren Bänke aufgeschlagen. Auf diese setzten sich die Wallfahrer und beteten still vor sich hin. Ich nahm als Schulknabe mehrmals an einer solchen Wallfahrt teil mit meiner Mutter selig. Auf dem Rückweg wurde in einer Ortschaft auch eingekehrt und etwas Zobig genommen.

Auch das Schatzgraben wurde damals von einem Mumpferbürger versucht, in dem Wäldchen südlich von Mumpf zwischen dem Zuzger- und dem Obermumpferweg. Dieser ging nachts mit einigen andern Bürgern dorthin mit einem grossen Leintuch und Kräutern. Aber vergebens wiederholten sie diesen Hokuspokus. Der Unternehmer war ein Junggeselle, seine Gehilfen leisteten ihm gern Dienste gegen Bezahlung oder leibliche Erquickung.

II. Periode

Nachdem ich 5 Jahre die Gesamtschule in Mumpf unter meinem seligen Vater besuchte, meldete ich mich in die Bürgerschule Säckingen. Diese Schule entsprach so unschwer jetziger Fortbildungsschule mit einem Hauptlehrer, ein Hülfslehrer und den Religionslehrer. Der Hauptlehrer war Herr Villinger, ein wahrer Pestalozzijünger, schon ein älterer Mann, der besonderes Gewicht auf die Erlernung der Sprache und auf eine schöne Schrift legte. Bei diesem Lehrer lernte man wahrhaft schön schreiben. Aus Mumpf besuchten noch Josef Waldmeier, späterer Sonnenwirt, Gotthold Güntert, später auf der Zivilgerichtsschreiberei Basel, beide schon gestorben und Adolf Schlienger zu gleicher Zeit diese Schule. Aus Obermumpf kam Karl Stocker, später Lehrer in Oberwil, Baselland. Von Wallbach her kamen Alfred Wunderlin, mein späterer Schwager und Friedrich Lenzi, der nachmalige Adlerwirt, beide auch vorangegangen. Von Stein kamen zwei Schüler: Julius Stutz, Löwenwirts und Josef Tröndle, später Postbeamter. Von Münchwilen kam ein Julius Moosmann. Alle diese Schweizer liebte unser Hauptlehrer sehr. Er stellte uns stets als Musterschüler vor, währenddem er die Säckinger als deutsche Michel und Pflastertreter titulierte.

Wir Mumpfer und Wallbacher nahmen das Mittagessen von daheim mit in einer Tasche. Rucksäcke gab es dazumal noch nicht. Unsern Proviant durften wir im Schulzimmer hinter den grossen eisernen Zilinderofen stellen, da wurde der Imbiss bis Mittag schön warm. Über die Mittagszeit waren wir Schweizer dann allein im Schulzimmer bei unserm Essen. Den Städtlern war es aufs strengste verboten, das Zimmer vor Schulbeginn zu betreten. Einzig Josef Waldmeier nahm das Mittagessen in einem Privathaus. Er kam aber rechtzeitig stets in unsere Klause zurück, um noch etwas Allotria zu treiben. Jedesmal bei Schulschluss wurde noch ein Gebet gesprochen, dann eingepackt Buch und Stift, dann standen alle auf und grüssten zum Abschied den Lehrer mit dem Wunsch: „Behüt Sie Gott Herr Lehrer!“ Dann verabschiedete er uns. Der Hülfslehrer Müller war Kaplan und erteilte Unterricht in der französischen Sprache. Er war nicht so beliebt, weil er sich über uns gern lustig machte und spöttelte. Ein anderer Lehrer Volmar gab Unterricht im Zeichnen, aber er steckte das Ziel in seinem Unterricht zu hoch.

Die Mumpfer und Wallbacher benutzten die Rheinfähre in Mumpf. Im Sommer begann der Unterricht um 7 Uhr, im Winter um 8 Uhr. Von der Fähre aus am badischen Ufer hatten wir immer 3/4 Stunden bis zum Schulhaus. Dieses stand östlich von der Stadtkirche, wo jetzt noch das Amtshaus ist. Weil wir schon so früh in der Schule uns einzufinden hatten, hiess es früh aufstehen. Etwas nach 6, eventuell nach 7 Uhr standen wir schon im Fährschiff, Mumpf und Wallbach aufeinander wartend. Wir kamen aber auch höchst selten, etwa im strengen Winter, ein wenig zu spät zur Schule. In dieser Hinsicht rühmte uns der Oberlehrer Villinger stets! Aber im Winter, wenn Treibeis (Grundeis) auf dem Rhein war, dann konnte das Fährschiff nicht benutzt werden. Da mussten wir über Stein nach Säckingen wandern, das war ein Weg von 5/4 Stunden, dazu der scharfe Biswind, der uns von Stein bis Säckingen durch die Knochen blies. Denn dazumal hatte man noch kein Mäntelchen und keine Pelerinen, nur unsere diversen Kleider. So hatten wir oft 2-3 schwere Tage nacheinander. Dann durften wir aber im Schulzimmer zum Ofen stehen.

Der Rückweg von Säckingen war für uns der schönste Vergnügungszeitpunkt. Im Sommer winkten uns die rotbraunen und schwarzen Kirschen von den am Wege stehenden Bäumen herunter. Die Flurpolizei wurde streng gehandhabt, selbst die badischen Grenzwächter verwarnten uns auch etwa, wenn die Schweizerbuben gar frech wurden, aber verzeigt oder gar gestraft wurden wir nie. Das Schulgeld betrug für ein Jahr für jeden auswärts wohnenden Schüler sechs Gulden (1 Gulden = 2 Fr 20 Rp). Die Lehrmittel und Schulmaterialien hatten wir selbst zu besorgen. Als französisches Lehrbuch hatten wir das von F. Ahn, als deutsches Geschichtsbuch das von Beck, als Lesebuch „Der süddeutsche Schulfreund“, ein Geographiebuch hatten wir nicht, es wurde die Geographie des Grossherzogtums Baden von Lehrer Villinger doziert. Die biblische Geschichte nach Christof Schmid behandelte der Stadtpfarrer. Musikunterricht nahm nur ein Schüler von uns und zwar Jakob Gersbach von Wallbach im Flötenspiel.

Eine Zeitlang ass ich zu Mittag mit Bruder Philemon, der damals in der obern oder alten Fabrik arbeitete. Das Mittagessen wurde uns von daheim dorthin gebracht. Dort sah ich auch zu, wie die Seidenbänder gewoben und zwischen zwei grossen hohlen Walzen durchgelassen wurden. In die Höhlung der Walzen wurden rotglühende Kugeln gebracht, damit das Walzwerk immer heiss war. Zu meiner Schulzeit gab es in Säckingen drei grosse Seidenfabriken: Die „neue“ Fabrik zunächst westlich von der Stadt, die „alte“ Fabrik am Weg zum Berg her, die Seidenfabrik von Kern ausserhalb der Stadt gegen Obersäckingen hin,ferner war an der Strasse gegen Egg eine Fabrik, in der Nastücher und Bändel gewoben und bedruckt wurden, diese gehörte einem Säckinger Bürger, die andern drei den Gebrüdern Bally und Kern, alle Schweizerbürger, natürlich gaben die Möhliner Urban und Anton Kim ihr überflüssiges Geld auch an die Gebrüder Bally ab. Es fanden damals viele Hände aus Wallbach, Mumpf, Zeiningen, Zuzgen, Obermumpf, Stein, Schupfart Münchwilen, Eiken Sisseln, Arbeit in den verschiedenen Fabriken und Geschäften. Meine liebe Elise und Schwester Blanka arbeiteten auch längere Zeit daselbst.

Ich hatte auch Gelegenheit, das sogenannte „Heidewibli“ kennen zu lernen. Es war dies ein Weiblein von Egg, das trug Pumphosen, eine braune Jacke und eine schwarze Zipfelkappe. Es brachte mit seinen Ochsen, die mit dem Kopf mittelst eines Joches den Wagen zogen, Langholz an dem Rhein herunter zu flössen. Das Weiblein rauchte stets aus einer langen Pfeife. Trinken und fuhrwerken konnte es besser als mancher Mann. Der damalige Grossherzog von Baden schenkte ihm eine kostbare Tabakspfeife.

Unser Schulraum war hinter dem jetzigen Amtshaus, die übrigen Schulen waren im jetzigen Amtshaus untergebracht, der neue Schulhausbau existierte damals noch nicht, auch das Scheffeldenkmal beim grossen Brunnen noch nicht. Meine Schulzeit in Säckingen fiel in die Jahre 1869 und 1870, das heisst bis zum Beginn des deutsch-französischen Krieges. Vom September 1870 an hiess es für uns Schweizer: daheim bleiben! Nun betrat ich einen neuen Weg zur Weiterbildung.

III. Periode
Es wurde durch Adrian Schmid, Hausvater an der Pestalozzistiftung Olsberg den Lehrern im Fricktal bekannt gemacht, dass die Schweizer Gemeinnützige Gesellschaft beabsichtige, Lehrer für Armenanstalten der Schweiz in einem besonders für diesen Zweck geeigneten Institut heran zu bilden. Als Lehrerbildungsanstalt hiefür war die Bächtelen bei Bern ausersehen. Es waren dort vor mir schon eingetreten folgende Fricktaler: Gotthold Güntert, Geschwisterkind (Anm.: Vetter, Neffe oder Cousin) zu mir, Theodor Lenzi von Wölflinswil, später Lehrer in Zeiningen und Anstalt Olsberg, ein Hohler aus Zuzgen, später Lehrer im Elsass, ein Rüetschi von Oberfrick, der, ein Autodidakt, die Prüfung in der Sprache bestand und als Bezirkslehrer in Rheinfelden angestellt wurde.

Mit mir traten im Oktober 1870 in der Bächtelen ein: Josef Mettauer von Gipf, Franz Keller von Hornussen und Ferdinand Hürbin von Wegenstetten.

image014(Foto: Staatsarchiv des Kantons Bern, T. 1091)
An einem trüben Oktobertag machte ich mich so mutterseelenallein von Mumpf zu Fuss mit einem Paket von Kleidern und andern nötigen kleinen Sachen auf den Weg nach Rheinfelden und über den Berg nach der Anstalt Olsberg. Ich machte diesen Weg das erste Mal in meinem Leben. In der Anstalt übernachtete ich. Am nächsten Vormittag gab mir der Hausvater einen Anstaltsbuben als Führer mit nach der Bahnstation Niederschöntal (Anm.: Füllinsdorf/Frenkendorf). Dort löste ich eine Fahrkarte nach Bern. Diese Fahrt machte ich allein. In der Nacht, stockfinster, um 9 Uhr kam ich in Bern an. Nun sollte ich von hier aus nach der Anstalt Bächtelen. Ich kannte weder Weg noch Steg. Da fragte ich einen Dienstmann im Wartsaal, ob er mich nach der Bächtelen führen wollte, da sagte er, sie dürften nach 9 Uhr nachts nicht mehr über das Stadtgebiet heraus, er wolle aber den Direktor der Dienstmänneranstalt noch um Urlaub ersuchen. Bald kam er mit der für mich erfreulichen Nachricht zurück, er dürfe mich führen, aber es koste 2 Fr. Gerne spendete ich diese. Dann ging es bei stockfinsterer Nacht dem neuen Heime entgegen, oft ging es quer feldein.

Da standen wir auf einmal vor einem mit Petrollampen erleuchteten Raum. Ich schaute durchs Fenster. Es war ein Schulzimmer. Drinnen sassen oder standen die grossen Schüler. Ich erkannte sofort darunter meinen Vetter Gotthold Güntert. Alle Schüler trugen grüne Schirme aus Pappe über den Augen, sie konnten diese Schirme an einem Pappstreifen über die Stirne herunter ziehen bis über die Augen. Wir trugen dann später auch solche. Ich trat in das Lehrzimmer. Mein Vetter sah mich erstaunt an und führte mich dann zum Anstaltsdirektor Kuratli. Der war mit seinem Stellvertreter und Hauptlehrer und dessen Frau in einem behaglichen Wohnzimmer.

Kuratli war Junggeselle. Er stammte aus dem Kanton St. Gallen. Er war eine behäbige untersetzte Gestalt, nicht sehr einnehmend oder sympathisch. Er forderte nun meine Schriften und Zeugnisse ab.

Nun war ich in der Bächtelen installiert. Dieselbe liegt ausserhalb Wabern, auf der rechten Strassenseite gegen Thun. Sie ist etwa 5 Minuten von der Strasse gegen den Gurten hin. Die Anstalt, drei Hauptgebäude und Scheune mit Stallungen liegen eben, ganz am Fusse des Gurten. In einem Bau waren unsere Wohn- und Lehrzimmer, in den andern Gebäuden waren die Anstaltsbuben in sogenannten Familien untergebracht. Bächtelen war nämlich eine Erziehungsanstalt für verwahrloste reformierte Knaben. Diese waren drei Lehrern der Anstalt in besondern Wohnräumen unterstellt. Jeder Lehrer hatte seine Schüler oder Zöglinge zu unterrichten und bei den Feldarbeiten zu beaufsichtigen. Die Anstalt besass nämlich ein grosses Landgut, das von der Strasse an bis an den Gipfel des Gurtens hinauf sich ausdehnte.

Dieses grosse Gut hatten die Anstaltsbuben und wir Lehrerzöglinge allein zu bearbeiten. Wir hatten nämlich während des Sommers nicht gar viel Unterricht. Denn bis im Frühling das grosse Gut angepflanzt, im Sommer geheuet, geerntet, geemdet und im Herbst Kartoffeln und anderes Gemüse eingeheimst war, gab es Arbeit in Hülle und Fülle. Es waren nämlich nur 32 männliche Dienstboten eingestellt, die hatten nur Vieh und 2 Pferde zu besorgen. Ich hatte einen ganz besonderen Dienst.

Wenn meine Kameraden zur Feldarbeit ausrücken mussten, behielt mich der Hauptlehrer Schneider zurück. Mir wurde eine kleine Hutte (Tragkorb) angehängt. Damit musste ich nach der Bundesstadt wandern, oft 2 mal oder mehr in der Woche, um verschiedene Sachen für den Haushalt einzukaufen, oder die Mitglieder der Bächtelenkommission zu einer Konferenz einzuladen. Da galt es einen Bondeli, Postdirektor, einen Oberst Wurstemberger, die 2 reformierten Pfarrherren Güder und Baggesen und andere einzuladen. Es wurde mir nur die betreffende Gasse angegeben und fortgeschickt: da such! Es nimmt mich jetzt noch wunder, wie ich alle diese Herren und Geschäfte so leicht auffinden konnte in der grossen Stadt Bern, die mir ja bis dahin fremd und unbekannt war. Aber jeden Auftrag konnte ich ausrichten, kein einziges Mal kam ich eines unverrichteten Dinges wegen heim. Auch konnte mir nie ein Verweis erteilt werden.

Man übergab mir auch Gelder, die ich auf der Post oder in einer Geschäftsstelle einzuzahlen hatte. Damals aber wurden auch grosse Beträge mit oder in Gold oder in 5 Fr. Stücken einbezahlt. Einmal hatte ich in einer Filiale Fr.600.— abzugeben. Herr Schneider übergab mir in Gold in Rollen verpackt diesen Betrag in meine Tasche. Als ich die Summe dem betreffenden Kassier einhändigte, sagte er zu mir, es fehlen 20 Fr, also hätte ich ihm nur 580 Fr. überbracht. Er übergab mir den ganzen Posten wieder zurück. Als ich das Geld und den Bescheid dem Direktor übergab, sagte er, das sei nicht möglich, ich hätte ihm ja zugesehen, wie er die Fr. 600 .--vorgezählt und verpackt habe. Ich jedoch versicherte ihm, dass ich die Geldrollen unberührt nach Bern gebracht. Er glaubte ja mir, wird sich auch mit dem Gedanken zufrieden gegeben haben, er hätte sich vielleicht auch geirrt, oder es sei der betreffende Kassier nicht ganz zuverlässig. Item, ich musste standibus noch einmal nach Bern mit dem vollen Betrag. Ein andermal übergab er mir wieder einen grossen Geldbetrag in Gold, den hatte ich auf der Post einzuzahlen, da nahm der am Schalter der Post stehende Beamte eine Schere und schnitt ein Goldstück von 20 Fr. entzwei und übergab mir die ganze Summe wieder mit dem Bescheid, dieses Goldstück sei falsch. Ich brachte das Geld wieder heim. Am gleichen Tage musste ich mit dem zerschnittenen Goldstück nach Bern zum Goldschmied Fries, in der Nähe des Bundeshauses und musste dasselbe untersuchen lassen. Fries erklärte, das Goldstück sei echt, er bezahle dafür 19 Fr.60Rp. Den Bescheid überbrachte ich der Post. Der Postdirektor erkundigte sich, da er zufällig in der Nähe war, bei dem Postangestellten und mir, was geschehen. Ich teilte ihm alles mit. Er nahm das Goldstück und prüfte es. Er fand es auch als echt. Dann übergab er es dem Postgehilfen mit dem Auftrag, es zu behalten und ein anderes Goldstück aus seiner Kasse beizubringen.

Nicht ein einziges Mal wurden wir Lehrerzöglinge mit einem Lehrer der Anstalt nach Bern geführt und uns etwa die Sehenswürdigkeiten der Stadt gezeigt. Bern blieb uns eine unbekannte spanische Gegend. Nur an den Sonn- und Festtagen kamen wir alle vormittags zur Kirche nach Bern. Die Anstaltsbuben, weil alle reformiert waren, gingen unter der Führung ihrer Lehrer in die Heiliggeistkirche, die oben in der Stadt steht. Wir Fricktaler Lehrerzöglinge, die alle katholisch waren, trotteten allein, ohne Begleitung, die Stadt hinunter in die katholische Kirche in der Nähe des Regierungsgeländes, welche jetzt den Altkatholiken gehört. Oft besuchten aber unsere ältern Kameraden ein anderes Lokal, während dess wir jüngern den Gottesdienst mit kindlicher Frömmigkeit folgten. Auch durften wir jeweils allein in die Kirche zur Ohrenbeichte und heiligen Kommunion. Auf dem Heimwege erzählten wir einander von dem Ereignis, auch was uns so ein gwundriges Pfäfflein im Beichtstuhl ausgefragt, worüber wir uns sehr wunderten, nach Sachen fragte, die uns fremd waren.

Wir hatten also, wie gesagt, während der schönen Jahreszeit wenig Unterricht. Wir mussten das Feld bestellen, mähen, denn Mähmaschinen gab es noch nicht, dörren, einführen, das Getreide mähen, binden, heimführen, abladen, ebenso emden. Im Herbst galt es, das viele Gemüse, besonders die Kartoffeln vom Gurten herunter einzuheimsen. Die grössern und ältern Lehrerzöglinge hatten das Dreschen des Getreides zu besorgen. Einige von ihnen hatten sogar die Aufgabe, Brot zu backen für die ganze Anstalt. Also Arbeit in Hülle und Fülle, aber nur nicht dort, wozu wir eigentlich in die Bächtelen geschickt wurden, nämlich zum Studium. Darüber beschwerte sich einmal unser Vater bei Direktor Kuratli. Von dieser Zeit an hatte ich es bei diesem Herrn nicht mehr so gut.
Die Beköstigung war sehr primitif, oft nicht sehr sorgfältig oder reinlich zubereitet. Am Morgen gab es Milchkaffee und Brot, am Mittag Suppe, Gemüse mit Schweinefleisch, nachts Suppe ohne Zugabe. Oft schauten wir mit lüsternen Blicken nach dem Tische, an dem das Gesinde abgefüttert wurde, die hatten allerdings bessere Kost und mussten nicht einmal etwas zahlen dafür. Unser Schlafraum war zuoberst unter den Dachziegeln. Da schliefen wir Zöglinge mit den Anstaltsbuben, etwa 40 - 50 Stück, jeder in einem leichten Bett ohne Teppich, so dass wir Winters fast g’stablig wurden vor Kälte.
image015(Foto: Appenzellische Jahrbücher, Band 68, 1941)

Am Morgen waren unsere Kleider, Schuhe, Strümpfe richtig kalt. Oft lag eisiger Duft auf unsern Betten. Um 5, im Winter um 6 Uhr ertönte der Ruf des Lehrers, der bei uns schlief: Aufstehen! Da machten wir uns mühsam aus unsern Betten und begaben uns zum Brunnen vor der Anstalt, um uns zu waschen. In der Nacht erging es uns oft schlimm. Nachtgeschirr gab es keine, oft waren die Aborte geschlossen, alles finster, denn elektrische oder auch eine Petrolbeleuchtung gab es in der Anstalt nach Schlafenszeit nicht. Da musste man drei steinerne kalte Stiegen hinunter vor das Haus, wenn es nicht möglich war im obersten Gang ein Fenster nach aussen zu öffnen und dort hinunter zu „schiffen“. Es war überhaupt gar nicht die Fürsorge getroffen, uns bei Gesundheit zu erhalten, wie das jetzt in der neusten Anstalt geschieht.

Als Anstaltslehrer hatten wir Herr Schneider, der Unterricht in der Pädagogik erteilte, da wurde viel von Fellenberg und Pestalozzi doziert; Loosli gab uns Unterricht in der deutschen und französischen Sprache; Schütz, ein alter bernischer Sekundarlehrer, dozierte über Geographie, Geschichte, Naturkunde; Wenger, ein Primarlehrer von Bern erteilte jeweils Samstags Unterricht im Violinspiel und Freihandzeichnen. Vorher erteilte ein Musiklehrer Thiele aus Bern, ein Preusse, Violinunterricht.

Nun kam noch neue Arbeit für uns, Kuratli, der Vorsteher, kaufte unterhalb der Strasse, die das Bächtelengut begrenzte, noch ein Landstück voller Stauden und Unkraut, das erwarb er aber nicht etwa für die Anstalt, sondern für sich. Dieses Grundstück hatten wir Buben und Zöglinge, zu kultivieren. Kuratli liess nun auch ein Bau darauf erstellen. Es wurde daraus eine Pensionsanstalt  für Herrensöhne und „Grünau“ getauft, die glaub ich jetzt noch besteht.

Wir Lehrerzöglinge waren ganz klösterlich gehalten. Nie wurde mit uns ein kleiner Ausflug auch nur in die nächste Ortschaft gemacht. Eines Sonntags im Frühjahr 1872 wurde uns Zöglingen erlaubt, einen Ausflug nach Belp und Umgebung über den Gurten, Zimmerwald, und nach der Bächtelen zu gehen. Da fiel uns ein, wir könnten unterwegs auch einmal „einkehren“. Gesagt - getan! Dies war nun der Anfang vom Ende. Als wir in die Bächtelen heim kamen, wurden schon die Psalmen herunter geleiert. Jeden Sonntagabend hatten wir nämlich Übung im Psalmensingen. Da ertönte schon von ferne der Ruf: „Ja, ja! Ihr werdet nun etwas vernehmen.“ Und richtig wurden wir vor den Kadi zitiert. Da wurde uns gedroht mit Relegation. Wir aber fürchteten uns nicht besonders. Kuratli hat uns selbst nicht getraut. Dieser hatte nämlich schon längst die üble Gewohnheit, uns jüngere Fricktalerzöglinge nach der Samstag Abendandacht zu sich in sein Privatgemach zu nehmen. Da standen wir an der Wand und mussten zusehen, wie dieser Kuratli, der ein Jungeselle war, sich bis auf die Unterhose entkleidete und sich in sein daneben stehendes Bett begab. Einer von uns musste nun zu ihm auf den Bettrand sitzen. Diese Manipulation fiel uns auf. Da erschien in einem Bernerblatt auf einmal die Bekanntmachung dieser Handlung Kuratlis von einem früheren Anstaltzögling, Wiesendanger, aus dem Toggenburg. Der Aufsatz wurde auch gelesen vom Berner Staatsanwalt. Es wurde nun Anzeige gemacht gegen Kuratli. Wir Lehrerzöglinge wurden nun einer nach dem andern in der Bächtelen von den Herren der Aufsichtskommission verhört. Bald fiel der Entscheid, aber zum schweren Umsturz des Direktors Kuratli. Eines Tages vor dem Heuet stand die Anstaltskutsche vor der Wohntüre Kuratlis. Wir standen dabei, wussten aber nicht, um was es sich handelte. Da kam Kuratli in schwarzer Kleidung mit Zilinder, nur ein kleines Handköfferchen tragend und stieg in die Kutsche. Bevor der Knecht mit ihm fortfuhr, sagte Kuratli noch zu uns: „So heuet nun, bis ich wieder zurückkehre.“ Der aber kehrte nie mehr zurück.

Zu den Anstaltslehrern gehörten auch die zwei reformierten Geistlichen Baggesen und Güder aus Bern. Diese gaben abwechselnd an 2 Halbtagen in der Woche, der ältern Abteilung der Lehrerzöglinge Unterricht in der Religions- und Kirchengeschichte. Jedesmal musste der betreffende Geistliche in der Anstaltskutsche geholt und wieder heim geführt werden. Dies hatte gewöhnlich Hohler besorgt. In unserer Abteilung sassen noch ein Kirchhofer aus Ins, ein Scheidegger aus Aarburg, ein Hinderberger aus dem Toggenburg, der klettern und tief hinunter springen konnte, ohne dass er Schaden nahm, wie eine Katze, der war unser Zeitvertreib nur aus Mutwillen, wir gaben ihm den Spassnamen Hindenburger, wahrscheinlich dachten wir damals schon an den späteren deutschen General Hindenburg; auch ein Burkhard aus Meersburg, Baden, gehörte zu uns.

Etwas Klavierunterricht erteilte uns Wenger von Bern. Eine kleine Orgel besass die Anstalt auch, die gewöhnlich gespielt wurde von einem Lehrer an den Sonntagabenden, wo die Psalmen eingeübt wurden. Noch einen Lehrer hatten wir, Hofer, ein Aargauer, der Unterricht im Schreiben und Geographie erteilte.

Im Frühjahr 1871 sahen wir auch oft uniformierte französische Soldaten auf der Strasse Bern-Belp spazieren.  In der Stadt Bern waren davon viele, so war die Heiliggeistkirche total angefüllt von diesen. Es wurde aber von diesen Rothosen dazumal nicht vier Rühmliches erzählt.

Ein Ereignis blieb uns lange im Gedächtnis: An Sylvester nachts 12 Uhr wurden wir in unsern Betten geweckt, im Schlafsaal alle Fenster geöffnet, denn ab da wurde um diese Stunde die grösste Glocke im Berner Münster gezogen. Es war aber dieses nicht ein Läuten, sondern nur ein stossweises Tosen, das wir in der Bächtelen sehr gut hörten, bald nachher wurden sämtliche Glocken der ganzen Stadt geläutet, das bewirkte in uns allen ein tiefes Heimweh, weil wir in diesem Moment nicht bei unsern lieben Eltern und Geschwistern sein konnten.

Ferien hatten wir im Jahr nur einmal und zwar nach dem Heuet 14 Tage. Da fuhren wir zwei, Hürbin und ich von Bern nach Sissach, von dort gings zu Fuss nach Wegenstetten, und ich allein dann nach Hellikon, Zuzgen über den Chriesiberg heim mit meinem schweren Paket Wäsche und Kleider. Kostgeld hatten wir in der Bächtelen nicht gerade viel zu zahlen, doch an dem war’s genug, es wurde zwar uns auch in der Anstalt gewaschen, auch dann und wann wo es nötig war geflickt, ohne dass wir hiefür etwas zu zahlen hatten.

Zu Anfang des Jahres 1872 wurde nun die Lehrerbildungsanstalt in der Bächtelen aufgegeben. Die Bächtelen war von jetzt an nur noch eine Anstalt für verwahrloste Knaben reformierter Konfession und besteht  jetzt noch als solche unter dem Protektorat der Schweizer Gemeinnnützigen Gesellschaft. Es wurde von der Anstaltskommission beschlossen, uns Fricktalerzöglinge Franz Keller von Hornussen, Josef Leopold Mettauer von Gipf, Ferdinand Hürbin von Wegenstetten und mich in das

Seminar Muristalden bei Bern unterzubringen, damit wir später als Lehrer der Armenanstalten wirken könnten. Wir mussten nun zuerst den Willen unserer Eltern einholen, aber alle erklärten sich für das aargauische Lehrerseminar. Nun traten wir also definitiv aus der Bächtelen und wanderten heimwärts. Nicht habe ich den lieben, beherzigenswerten Begleit- und Scheidebrief unseres wohlgewogenen Vorstehers Schneider vergessen, der mir darin, weil ich so treu und folgsam ihm gar viele Dienste geleistet, viel Glück und Segen zu meinem weitern Studium und fürs spätere Leben wünschte.

IV. Periode

Es wurde nun im Frühjahr 1872 ein neuer Kandidatenkurs am Lehrerseminar Wettingen auf den 1. Mai gleichen Jahres ausgeschrieben. Wir Bächteler meldeten uns alle vier zur Aufnahme, aber in die 2. Klasse des Seminars. Das war jedoch nicht ganz klug von uns, denn unsere Vorbildung für eine erste Klasse war doch nicht das, was die erste Klasse in Wettingen bot und zwar in allen Fächern. Unsere Anmeldung wurde angenommen, die Aufnahmeprüfung hatte stattgefunden. Wir wurden provisorisch in die zweite Klasse aufgenommen. Mit 1. Mai konnten wir eintreten.

Vorher erhielten wir von der Anstaltsdirektion ein Verzeichnis derjenige Wäschestücke, die wir mitzubringen hatten: Wieviele Hemden, Nastücher, Handtücher, Socken oder Strümpfe, Kragen, Kleidung, nebst Kamm und Bürsten. Auch musste jeder einen Vermögensausweis beilegen behufs Ermittlung des Staatsbeitrages (Stipendium) an das zu zahlende

Kostgeld. Dasselbe betrug pro Tag 1 Franken, Staatsbeitrag erhielt ich pro Quartal 20 bis 24 Franken. Sämtliche Lehrmittel hatte jeder sich selbst zu beschaffen.

Es waren nun in unserer 2. Klasse folgende Schüler: 1. Ammann Anton von Eien, 2. Braunschweig von Endingen, mit uns in diese Klasse eingetreten aus der Kantonsschule Aarau, 3. Brodbeck Emil von Therwil, Baselland. 4. May Eduard von Buckten, Baselland, 5. Friedrich Hunziker von Windisch, 6. Keller Franz von Hornussen, 7. Keller Heinrich von Mandach, 8. Keller

Julius von Endingen, 9. Dinkel Ferdinand von Eiken, 10. Hürbin Ferdinand von Wegenstetten, 11. Zehnder Konrad von Birmensdorf, 12.  Rehmann Julius von Kaisten, 13. Dürst Joachim von Glarus, 14. Hächler Rudolf von Gränichen, 15. Mettauer Josef von Gipf, 16. Seiler Josef von Wohlenschwil, 17. Strebel Josef von Mägenwil, 18. meine Wenigkeit.

image016(Foto: Historisches Lexikon der Schweiz)
Unsere netten Lehrer an dem Seminar waren: Als Direktor amtete Franz Dula, ein Luzerner. Er gab Unterricht in der Pädagogik, in Religion- und Sittenlehre, in der Anthropologie. Wir Seminaristen hatten ihn alle bald sehr lieb genommen. Wenn einer irgendwie gefehlt, so ermahnte und warnte er ihn väterlich, ohne dass er hievon Gebrauch machte bei den Lehrerkonferenzen des Seminars, noch bei der Ausstellung des Quartalszeugnisses. Er war Berater und Fürsprecher für einen jeden, mit einem Wort: Er war der Vater Dula.

Später erteilte den katholischen Seminaristen ein junger Pfarrherr aus dem Luzernerbiet katholischen Religionsunterricht. Unterricht in der deutschen Sprache erteilte Hermann Brunchofer von Aarau, der ein recht hochdeutscher Verfechter war, dann mussten wir jeweils am Montag die deutsche Sprachlehre aus „Dr. Frey Sprachlehre“ herunter lesen ohne jede Erklärung, je nach 14 Tagen hatten wir ihm einen Aufsatz abzuliefern, dessen Thema er uns ohne jegliche Erklärung gegeben. Sein Nachfolger als Deutschlehrer war Daniel Mäder, bis anhin Bezirkslehrer in Muri. Er war ein guter Methodiker, es wurden unter ihm auch grössere Gedichte, Dramen behandelt. Aber punkto Sauberkeit und Genauigkeit in Kleidung und intimer Ausrüstung war er nicht sehr reinlich. Als Junggeselle ergab er sich nach und nach dem Trunke. Er sank und fiel und schliesslich liess er sich einen argen dummen Fehltritt zu schulden kommen. Wir 4. Klässler aber traten für ihn ein, die andern Klassen weigerten sich, seinen Unterricht weiter zu besuchen. Mäder musste dann gehen.

Den Unterricht in der französischen Sprache erteilte ein Pfarrer Blanc, der war reformierter Geistlicher aus dem Elsass. Er erteilte auch reformierten Unterricht den Seminaristen. Blanc zeigte ein leises vornehmes Auftreten.

Friedrich Link, ein Hochdeutscher aus Preussen, erteilte Unterricht in Gesang, Violin-, Klavier- und Orgelspiel. Das war kein beliebter Lehrer, fast immer neidischer oder übler Laune. Keinen konnte er etwa im Unterricht lachen sehen, bald flogen dem Übeltäter rohe Scheltworte an den Kopf, er jagte ihn kurzerhand vom Klavier oder der Orgel weg oder wies ihn aus dem Zimmer. Link verliess mit uns 1875 das Seminar Wettingen. Er wurde an ein deutsches Seminar gewählt.

In Geschichte, Geographie und Schreiben unterrichtete Johann Heinrich Lehner von Stilli, ein schon alter Lehrer. Er dozierte Geschichte und Geographie direkt aus seinem vor ihm offen liegenden Buche. Im Schreiben hielt er viel Taktschreiben mit uns, die Stunden, die mir sehr gefielen. In Naturkunde und Naturgeschichte unterrichtete Markus Alder, der seine Studien auf der landwirtschaftlichen Hochschule absolvierte. Er las uns auch vor, was in seinem Buche stand. Von Experimentieren war so wenig als von Botanisieren. Es war nur ein Buchstudium oder Vorlesen.

Als Lehrer der Mathematik, Geometrie, Stereometrie funktionierte Trautwetter, ein vertrockneter Zahlenmensch, der etwas langweilig war, spendete uns etwa Brocken aus dem Kurszeddel (Anm.Kurszettel) und Effektenbörsen, welches uns ein spanisches Dorf war. Nun trat noch ein weiterer Lehrer ein, der uns Unterricht erteilte in der Agrikulturchemie, Landwirtschaftslehrer Dr. A. Frey, ein junger Mann, dem wir gerne zuhörten, nur schaute er uns nie an, wenn er dozierte, seine Augen waren immer nach der Zimmerdecke oder Ecke gerichtet. Frey war auch Aufseher in der Landwirtschaft des Seminars, daneben Kassier der Anstalt, dem wir das Kostgeld zu bezahlen hatten. Dasselbe betrug 7 Fr. per Woche. Genug für solche Kost.

Primarlehrer Büchler von Brugg war unser Turnlehrer, der kam jeden Samstagnachmittag und erteilte 2 - 3 Stunden Turnen. Er selbst machte uns wenige Übungenvor, das besorgte einer von seinen Turnschülern aus Brugg, der nun in unserer Klasse war. Wir Bächteleren waren in diesem Fache eine Null, denn Turnunterricht genossen wir dort nicht, denn Feldarbeit war der Ersatz des Turnens. Auch in andern Fächern mussten wir uns sehr an den Laden legen, sonst wären wir wieder zurück gekrebst. Es fehlte aber an der nötigen Vorbildung. Unter Umständen wäre es besser für uns gewesen, wir wären in die I. Seminarklasse aufgenommen worden, wir hätten dann eine gute Grundlage in den verschiedenen Disziplinen gehabt. Für mich fehlte es gar in den Anfängen aller Fächer, denn meine Kameraden alle hatten eine Bezirksschule besucht, bevor sie in die Bächtelen eintraten, ich bloss die Bürgerschule in Säckingen. Einen Turnplatz hatten wir in Wettingen, wie ihn jetzt auch die hinterste Dorfgemeinde hat, darauf standen ein Reck und ein Klettergerüst. Von Spielen war keine Rede. Öfters schaute der Direktor Dula von seiner Wohnung aus unserm „flotten“ Turnübungen zu. Er wird auch seine eigenen Gedanken gesponnen haben über unsern Turnbetrieb.

Im Seminar wurden die Zimmer mit Holz und zwar mit Wellen geheizt. Je ein grosser Kachelofen heizte zwei daran stossende Zimmer. Jeden Samstag über die Mittagszeit hatten gewöhnlich die 3. und 4. Klässler jeder 6 Stück Reiswellen aus dem Holzhaus bei den Stallungen nahe an der Limmat hinauf zu tragen in den Holzraum im ersten Stock hinter den Seminaristenzimmern. Das Heizen besorgte der Pedell (Anm. Hilfskraft). In jeden Ofen kam eine Welle, diese waren aber verschieden gross, bald knebelreich, bald knebelarm. Daher bekam hie und da ein Ofen wenig Material zur Wärmeabgabe. da musste man oft selber nachhelfen mit dem nötigen „Haber“. Wenn die Luft in den Gängen rein war und die Holzkammer nicht so gut verschlossen, holte man hie und da etliche Knebel und warf sie in den Ofen, oder man versteckte sie in seinem Zimmer im Kasten, oder im Bett, oder zwischen dem innern und äussern Fenstern, denn man hatte immer Vorhänge und holte diese Knebel hervor, wenn es nötig war. Aber oft kam es vor, dass so ein „gfürchiger“ Wocheninspektor eine Visite machte und hinter die Vorhänge oder in den Kasten guckte, dann war das Unglück geschehen. Es war nämlich Usus, dass je ein Seminarlehrer, der im Seminar wohnte, je eine Woche Wocheninspektor war. Der hatte dann beim Morgen-, Mittag- und Abendessen im Speisesaal bei uns zu sein und Aufsicht zu halten, er durfte auch da essen. Letztern Gebrauch machte aber bloss ein Lehrer mit, das war Heinrich Lehner. Der Lehrer sass mitten in der Tafelrunde auf einem Lehrstuhl. Hinter ihm an der Wand hing in Leder gebunden ein Heft, darin standen gedruckte Titel: Morgen- und Abendgebete. Vor dem Essen hatte der neben dem Lehrer sitzende Schüler, links oder rechts von ihm, das Gebet vorzulesen, worauf man dann erst zu essen begann. Das Abendgebet lautete im Anfang: Herr! Es will Abend werden und der Tag hat sich geneigt. Diesen Satz wandte ich nun auch an, als mir die hiesigen Vereine bei Anlass meines 50jährigen Dienstjubiläums am Abend ein Ständchen brachten. Es dünkten mich diese Worte gar passend zu meinen 70 Jahren. Ich erinnere mich noch wohl dieses Momentes und wie die liebe Mutter selig weinte in der Stube, wie sie diese meine Worte hörte.

Jeder Tisch war in sogenannte „Ordinäre“ eingeteilt, je zu 8 „Mann“, 4 links, 4 rechts vom Tisch. Dazwischen lag ein Brettchen quer über den Tisch, damit man ja nicht etwa über die Grenze angelte nach einem guten Brocken.
image017(Foto: Wikipedia)

Am Morgen um 5 Uhr läutete es zum Aufstehen. Dann ging’s in den Klosterhof hinunter zum Waschen am grossen Brunnen. Jeder brachte sein Handtüchlein mit, hie und da einer auch Seife. Dann gings aber flink wieder hinauf in das warme Zimmer. Nun begann die Zimmerarbeit: Bett machen, wischen, hie und da abgestaubt. Nachher folgte das Morgenessen. Da standen auf jedem Ordinär 8 Schüsselchen, Löffel, 8 Brötchen und ein grosser Hafen mit Kaffee und Milch, schon zusammengeschüttet. Nach dem Essen wieder ein kurzes Gebet. Jetzt konnten wir noch wenige Minuten vor das Tor gehen, wer wollte. Um 8 Uhr begann der Unterricht. Nach jeder Stunde wurde ein Glockenzeichen gegeben. Es war nämlich im Seminargang eine kleine Glocke angebracht. Diese wurde von einem Seminaristen nach jeder Stunde kurz angeschlagen. Um 12 Uhr war Unterichtsschluss. Man begab sich zum Mittagessen. Dies war immer recht und genügend. Es gab Suppe und Gemüse 2 mal in der Woche mit Schweinefleisch, am Sonntag Rindfleisch, jede Fleischsorte schon in acht Stücke geschnitten, wahrscheinlich um einem allfälligen Tischstreit vorzubeugen. Einmal in der Woche gab es als Mittagsspeise Kastanien, die mochten aber viele nicht, da konnten sich besonders diejenigen tüchtig sättigen, die das Süsse liebten, zu diesen gehörte auch ich. Von 1 bis 4 Uhr Unterricht. Um 4 Uhr stand im Esssaal auf einer Bank ein grosser Korb, in welchem die „z’Obigbrötchen“ waren. Jeder nahm ein solches, damit machten wir einen Rundgang um das Kloster hinauf bis etwa zum heutigen Bahnhof Wettingen und verzehrten das trockene Brot, Flüssiges gab es nicht dazu, auch das Wirtshaus zum „Sternen“, um das wir trotteten, durften wir nicht besuchen. Nun gings wieder in das Kloster hinein. Es wurde in den Klausen gearbeitet. An einigen Tagen hatten wir „Stunde“ von 5-6 oder 7 Uhr. Dann folgte das Nachtessen, wenn man so sagen könnte. Aber es bestand nur in einer Suppe, von welcher man an einem Teller genug hatte. Oftmals konnte man sie gar nicht geniessen. Und von jetzt an sollte man so bis um 10 Uhr erst recht arbeiten.

Trotzdem wir die Suppe verachteten, wurde weder von der Lehrerschaft des Seminars, noch von der Aufsichtskommission, noch von Aarau aus etwas getan, dass wir ein geniessbares Nachtessen erhalten hätten, doch stand ja dazumal der hochverehrte Landammann Augustin Keller an der Spitze des Erziehungswesens, der behielt aber die Seminaristen und auch die Lehrer gern „drunten“. Nach dem Nachtessen hatte man seinen Hunger mit trockenem Brot zu stillen, das verschaffte man sich aus seinem Geldbeutel. In der Näher des Klosters wohnte ein Bäcker. Zu diesem wurden jedeils abends die jüngeren Seminaristen geschickt, um die hungrigen Mäuler mit Brot zu verstopfen. Eine „Schildchrott“ wurde geholt, das war ein Pfundlaibchen. Aber beim Heimgehen musste man erst noch vorsichtig sein, denn jeder Brotträger wurde angehalten, sogar gerügt, obschon dies nur zum Notwendigsten diente, zur Erhaltung der Körper- und Geisteskräfte.

Es durfte natürlich von den Seminaristen auch nicht geraucht werden, weder innert noch ausser dem Seminar. In der Nähe des Klosters war auch ein Krämer, denn es gehörten etliche Wohnhäuser, sogar auch Bauernhäuser zum „Kloster Wettingen“, so war Wirsch ein Grossbauer, der Vater des spätern Grossrat Wirsch, der aber seinen Geschlechtsnamen umgemodelt in „Wyrsch“. Bei diesem Klosterkrämer erstanden die Raucher ihren Pfeifentabak „Maryland“, das Päcklein um 25 Rp., was jetzt das Dreifache gilt. Dieser Knaster musste aber hinter verschlossenen Türen und bei verstopften Schlüssellöchern geraucht werden. Es machte nämlich mancher Wocheninspektor in der Nacht noch einmal die Runde durch die Seminargänge und sah nach, ob auch die Lichter in den Zimmern gelöscht und alles in klösterlicher Ruhe lag. Einmal wurde hinten im untern Gang der Seminaristenzimmer nach Lichterlöschen, mitten im Gang eine Reiswelle aufgestellt. Von beiden daran stossenden Zimmern wurde eine Schnur an die Welle gebunden. Wie nun der Nachtinspektor Lehner mit seiner Kerze durch den Gang schritt, wurde abwechselnd an der Schnur gezogen, da wackelte die Welle mit ihrem Kopf, auf den noch eine Mütze gestülpt worden. Lehner sah das zuerst mit Schrecken, dann schritt er keck auf das Gespenst zu und versetzte ihm mit seinem Bein einen heftigen Stoss, sodass es zu Boden fiel, dabei sagte er doch noch: Was sind auch das für Dummheiten. Natürlich brachte er das Geschehnis in der nächsten Geschichtsstunde zur Sprache.

An den Sonntagen mussten die Katholiken am Vormittag in die Klosterkirche hinunter. Wir hatten da auch zu singen. Musiklehrer Link hatte uns auch ein von ihm komponierten Kirchengesangbuch aufgeleimt. Jeden Samstag hatte ein von ihm bestimmter Zögling einige von diesen Messgesängen einzuüben und am Sonntag mit der Orgel zu begleiten. Link kümmerte sich nicht darum. Selbst unser Dula besuchte fast jeden Sonntag den Morgengottesdienst, natürlich im geheimnisvollen Versteck, wo er immer aus seinem Buche für sich las.

image018(Aus Wikipedia, Datei 1235 p02 – Wettingen – Planimetria.jpg)
Am Sonntagnachmittag durften wir ausgehen. Dies war der einzige Freihalbtag in der Woche, wo wir wirklich frei waren. Da lag von Mittag an in jedem Klassenzimmer ein Heft auf, das schon rubriziert war in 4 Feldern, über denselben stand: 1. Name, 2. wohin, 3. wann fort, 4. wann zurück. Natürlich hatte man bis zum Nachtessen zurück zu sein. Die Hefte wanderten dann wieder zum Direktor zurück. Mit denen, die bis zum Nachtessen nicht da waren, wurde noch glimpflich verfahren. Aber um 9 Uhr war Torschluss. Wer erst dann kam, der musste beim Eingang läuten, da kam der Pedell und öffnete, musste aber am folgenden Tag jeden Delinquenten dem Direktor anzeigen.

Beim Kloster stand eine grosse alte Scheune, die Zehntscheune des Klosters für das Zehnthaus Höngg bei Zürich, darum das Höngghaus geheissen. Dieses alte Gebäude wurde nun oft von verspäteten Klosterzöglingen zum Einlasstor ins Seminar, aber das geschah mit Lebensgefahr. Man gelangte durch das Höngghaus bloss auf das Dach des Kreuzgangs. Von diesem musste man an den Fenstern der Seminaristenzimmer anklopfen, die gegen den Hof gelegen waren, worauf ihnen sofort geöffnet und sie herein gelassen wurden. Im letzten Winter unseres Seminarkurses waren aus unserer Klasse Dürst, May, Brodbeck, bis spät in die Nacht hinein bei einem Tanzvergnügen in Staretschwil. Als Eingang benützten sie auch das Höngghaus und gelangten glücklich auf das Kreuzgangdach. Es war aber Glatteis entstanden auf dem Dach und die drei Mönche wahrscheinlich nicht mehr ganz sicher auf ihren Stelzen: Item, sie stürzten, fielen und plumsten alle drei in den Hof des Kreuzgangs hinunter. Das war für sie
eine schlimme Situation. Der Hof war nämlich abgeschlossen durch eine starke Türe mit Schloss. Den Schlüssel hiezu hatte immer der Seminardirektor. Zwei von den drei Heruntergefallenen: Brodbeck und May konnten sich an den Blitzableiterdrähten auf das Dach des Hofes schwingen, der dritte: Dürst, aber musste liegen bleiben, er hatte ein Bein gebrochen. Nun hatte man zuerst den Schlüssel beim Direktor zu holen, den Verunfallten herauf zu schaffen und den Anstaltsarzt Keller in Baden zu holen. Das gab schlimme Tage für die drei Nachtwandler. Am schlimmsten ging es Dürst, er konnte bis Frühjahr nicht aufstehen und die Patentprüfung nicht machen mit seinen Kameraden.

Im Erdgeschoss des Seminars gegenüber dem Eingang, befindet sich nämlich der sogenannte Kreuzgang, ein in Viereck gelegener Bau, ähnlich den Laubengängen in Bern. Die Fenster sind alle nach dem lichten Hof gerichtet, ein unüberbauter Platz. Die Fenster haben alle Glasmalereien, es sind farbige Bilder aus dem alten und neuen Testament. Es sind alles Bilder in roter, grüner, blauer Farbe. Dieser Kreuzgang wird sehr häufig besucht von Fremden, besonders von solchen im Sommer von Baden her zur Zeit der Bädersaison. Der Pedell des Seminars ist der Führer, er gibt auch Erklärung über die Bilder, wahrscheinlich sind darüber auch Schriften erhältlich. Auch die Klosterkirche ist interessant, besonders im hohen Masse die Chorstühle, welche schöne Schnitzerabreiten aufweisen.

Die das Kloster umgebenden kleinen Häuschen und das kleine Ökonomiegebäude des Klosters sind jetzt umgebaut und dienen zu Unterrichtszwecken. Südlich vom Seminar ist der Garten und gegen die Limmat hin war seinerzeit ein Rebberg angelegt. Dieser verlockte uns besonders zur Herbstzeit zu kleinen Spaziergängen. Bei einem solchen passierte es mir mit andern, dass wir von den süssen Trauben stibitzten. Wir wurden ertappt und angezeigt. Unter der 3. Quartalsrechnung figurierte noch ein Zusatz: Wegen Traubendiebstahl 2 Franken. Das war doch zu arg, denn ein Dieb war ich in meinem Leben nie. Diese Bemerkung in der Quartalsrechnung werden wohl meiner Kameraden auch sehr empfunden haben. Den Obolus von 2 Fr. hätte die Seminarkasse auch in anderer Form erhalten, ohne uns bei den Eltern so hinzustellen.


Unser Spaziergang am Sonntag war fast allgemein nach Baden. Dort versammelten wir uns am Abend vor dem Heimgang in der „Faubourg“ und
marschierten dann mit einem schönen, gewöhnlich neu eingeübten Marschlied durch die Stadt über die alte hölzerne Limmatbrücke, denn eine andere Brücke hatte Baden damals noch nicht, heimwärts.

Während unserer Seminarzeit gab es für keine einzige Klasse nur irgend einen Reiseausflug, wie ihn jetzt jede Klasse einmal im Jahr hat. Einmal durften wir abends nach Baden in die Theateraufführung, die von der dortigen Schauspielergruppe gegeben wurde, die Deborah. Dies war aber auch das einzige Mal in den 3 Jahren, dass wir nachts oder zu einer Aufführung nach Baden oder sonst wohin gehen durften. Wir wohnten eben in einem Kloster. Der Klostergeist wurde vom damaligen Erziehungsdirektor Augustin Keller so richtig gehandhabt. Er wollte die zukünftigen sowohl als die amtierenden Schulmeister immer noch „drunten“ behalten.

Es wurden zu meiner Zeit auch noch Zöglinge bei Feldarbeiten, so bei Heuet und Erntezeit dort beschäftigt. Eines Tages vor den Sommerferien wurde uns vom Ökonomieverwalter bekannt gegeben, dass diejenige Zöglinge, die in der Erntezeit im Seminar helfen wollen, sich melden möchten. Ich meldete mich auch. Während den Ferien waren wir unser ca. 20 dort, wir erhielten pro Tag glaube ich 2 Fr. nebst Kost und Wohnung. So konnte ich dem Vater 12 Fr. heimbringen für eine Woche.

Es wurde während der Seminarzeit das Kloster oder jetzt die Irrenanstalt Königsfelden neu erbaut. Als dieser Bau nun fix und fertig eingerichtet war, arrangierte das ganze Seminar, Lehrer und Schüler einen Ausflug in die nun neu errichtete Irrenanstalt Königsfelden. Man staune! Die Aufenthaltsräume waren noch nicht bezogen zum Glück. Am Abend vor der Rückreise hatten sich die Zöglingen unter Aufsicht und Leitung des Seminarlehrers Markwalder im Gasthaus Füchsli versammelt. Aber die Seminaristen gingen bald da, bald dort hinaus, sie wollten auch einmal allein ihre Wege gehen. Als dann immer weniger wurden, sagte auf einmal Markwalder: „Ja, ja, die Seminaristen fangen an zu „schwienen“, das heisst, sie werden an Zahl weniger (schwien = Mundart). Markwalder warf aber gar oft, auch im Unterricht Mundart und Schriftsprache durcheinander. Er bediente sich bei den Lektionen fast immer des Lehrbuches von Brehm. Als einmal einer unruhig war, rief er ihm zu: Ich werfe den Brehm!

Von der 4. Klasse an mussten wir anfänglich alle zusammen je 1 bis 2 Stunden in die Übungsschule, damals Musterschule geheissen, zuerst nur als Zuhörer. Diese Schule wurde von Gottlieb Gloor geführt, dem Vater des späteren Bezirkslehrer Gloor in Rheinfelden und Vorsteher der Anstalt Aarburg. Gottlieb Gloor erteilte dert 1. Seminarklasse auch Gesangsunterricht. Wir besuchten die Übungsstunden unter Gloor recht gern. Im 3. und 4. Quartal des letzten Jahres hatten wir nun jeder je ½ - 1 Stunde Unterricht den Schülern der Übungsschule in den verschiedenen Disziplinen zu erteilen. Nach jedem Halbtag hatte dann Gloor eine Beprechung darüber, was ein jeder in seiner Unterrichtsstunde bezüglich der Behandlung gefehlt oder wie überhaupt dieses oder jenes Fach zu behandeln sei. Aber leider entgleiste Gloor später in gefährlicher Weise und brachte dann einige Zeit dort zu, wo sein Sohn dann auch versorgt wurde.
Wir IV. Klässler machten auch einen Schulbesuch mit Gloor in Ehrendingen einen vollen halben Tag.

Endlich nahte der Schluss der Seminarzeit. Am 13. und 14 . April 1875 waren die Patentprüfungen, schriftlich und mündlich unter Aufsicht und Fragestellung der Inspektoren des Seminars. Am 15. überreichte sodann der Erziehungsdirektor Keller einem jeden sein Patent, seinem Laufpass ins öffentliche Leben, zur Arbeit. Nun musste ein jeder zusehen, wohin ihn das Schicksal schlug. Jetzt galt es erst, das zu verwerten und anzuwenden, was er nach so vielen Jahren mit Mühe und Geduld, Arbeit, sich errungen. Der eine war schnell versorgt, der andere später. Die zwei Baselbieter Brodbeck und Mai bildeten sich weiter aus in den mathematischen und naturkundigen Fächer an der Universität Zürich.

Noch ein Erlebnis taucht in mir auf aus der Seminarzeit. Es war vor den Herbstferien. Da wurde uns am Abend bekannt gegeben, dass mit heutigem Tage die Ferien beginnen. Wir packten unser Tröglein schnell. Vom Seminar aus fuhr der Pedell auf einem Wagen unsere Siebensachen nach dem Bahnhof Baden, eine Station Wettingen gab es dazumal noch nicht, weil überhaupt die Bahnlinie auf dem linken Limmatufer von Baden bis Killwangen lag, somit gab es auch noch keine Bahnbrücke über die Limmat.

An selbigem Samstagabend war wie gewohnt Abendandacht im Musiksaal. Dies war immer so vom Direktor Dula eine Wochenrevüe mit Anstandsregeln in allen Fällen. Dann las er uns aus einem Andachtsbuch ein kurzes tief religiöses Gebet vor, wir Seminaristen sangen zwei passende Lieder unter Leitung eines Zöglings. Es war dies immer eine bildende Erbauungsstunde für alle. Wir hätten diese Abendandacht nicht gerne fallen lassen. An jenem Abend fassten wir Fricktaler: Keller von Hornussen, Joh. Mettauer von Gipf, Ferd. Hürbin von Wegenstetten, Dinkel von Eiken und die 2 Baselbieter den Entschluss, gleichen Abends noch heimzureisen. Das ging nun flink. Um 9 Uhr abends fuhr der letzte Zug von Baden nach Brugg ab. Wir erwischten den Zug noch. In Brugg gab es noch ein kleines z’Nüni und nun gings auf Schusters Rappen über den Bötzberg, denn durch denselben konnten wir noch nicht. Auf dem Bötzberg nach der Wirtschaft eigneten wir uns einen Buckel an ab einem Bohnenfeld. Nun blieb einer um den andern nach und nach in seinem erreichten Heim zurück. Von Eiken, wo ich Dinkel noch verlor, hatte ich noch allein zu wandern und kam etwa 4 Uhr morgens müde, mit wunden Füssen nach Mumpf.

Übersetzung der Kurrentschrift
und Auswahl der Illustrationen:
Gerhard Trottmann

Anhang: Kurrentschrift aus „Wikipedia“

Aus dem Leben des Franz Kaufmann

Franz Kaufmann
Franz Kaufmann
geboren 22. Oktober 1922
gestorben 3. August 2021

Vorwort
Im Rahmen meiner Maturaarbeit im Jahr 2021 habe ich mich dafür entschieden, das Leben meines Grossvaters Franz Kaufmann in einem Buch zusammenzufassen. Damit nahm ich mir gewiss viel vor, aber ich freute mich dennoch sehr auf die Arbeit. Ich interessierte mich schon immer für sein Leben und vor allem für seine Kindheit, welche uns in die Zeit anfangs des 20. Jahrhundert zurückversetzt. Lassen wir ihn also erzählen!

Meine Eltern im und nach dem ersten Weltkrieg

1888 kam mein Vater Albert Kaufmann in Mumpf zur Welt und 1884 meine Mutter Hedwig Güntert, ebenso in Mumpf.

1914 geschah für die Schweiz etwas Unerwartetes, der erste Weltkrieg brach aus. Der Bundesrat musste deshalb vom Parlament eine ausserordentliche Versammlung tätigen. Dazumal war Giuseppe Motta Bundespräsident. Er führte die Bundesratssitzungen, an welchen der Bundesrat 1914 die Mobilmachung beschloss. Der Entscheid einer Mobilmachung des Militärs war unumgänglich. Alle Soldaten waren gezwungen einzurücken. Mit der Mobilmachung verloren die Frauen zu Hause ihre Männer und mussten sich um alles alleine kümmern. Sie hatten die Aufgabe neben dem Haushalt auf die Kinder zu schauen, sowie die Stallarbeiten und das Heuen zu erledigen. Es gab noch keine Läden in den Dörfern, man konnte dafür immer aus dem Garten nehmen, was man gerade ernten konnte.

Die Männer, darunter auch sein Vater, durften nach dem Kriegsende 1918 endlich wieder nach Hause. So gab es 1919 eine Überraschung und die kleine Marie kam zur Welt.

Marie, meine Schwester, wuchs sehr gut heran und brachte viel Freude.

image002Elternhaus von Franz Kaufmann

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Meine Eltern führten unten im Haus einen kleinen Spezereiladen, welcher wiederum von den Eltern väterlicherseits seine Herkunft hat. Sie hiess Handlung Kaufmann-Güntert.

In dem Laden konnte man Mehl, Zucker, Kaffee und elementare Lebensmittel kaufen, aber auch Petrol in Flaschen. Petrol wurde angeboten, da man noch nicht überall elektrisches Licht hatte, sondern nur in der Küche und im Wohnzimmer. Im restlichen Haus musste man mit der Petrollampe leuchten. Das Petrol kaufte man in Behältern, damit man die Lampe zu Hause auffüllen konnte. Man brauchte Petrol auch hauptsächlich noch für den Stall und in der Scheune. Strom gab es schon, aber kein Geld für die Kabel!

Mein Vater war Bauer. Sie waren vier Brüder, drei von ihnen waren Bauern und der Kleinste namens Otti hatte das Kaufmännische gelernt. Wenn die Männer neben dem Bauernbetrieb etwas arbeiten wollten, konnten sie als Taglöhner tätig sein. Taglöhner konnte man rufen, wenn man Arbeit für sie hatte, sie bekamen dann einfach den Lohn, waren aber nicht versichert. Sie hatten auch noch keine AHV oder Lohnversicherung, da es diese noch gar nicht gab, aber man war froh, wenn man Arbeit fand. So arbeitete auch mein Vater. Er lernte den Beruf als Schreiner zwar nicht, aber er beherrschte das Fach und führte es auch gut aus. Zwischen Möhlin und Rheinfelden wurde dann eine Werkstatt eingerichtet für die Reparatur von Eisenbahnwagen. Die Firma hiess „Schindler und Meier Eisenbahnwagen“ und mein Vater konnte dort arbeiten gehen. Daraufhin schrieben sie die Stelle nie wieder aus, da er gut arbeitete, etwas konnte und deshalb fest angestellt wurde. So arbeitete er dann dort bis zur Pensionierung, bis er 65 Jahre alt war. Das Einzige, was es sonst noch an Industrie im Fricktal gab, war das Ziegelwerk in Frick, die Saline und das Feldschlösschen in Rheinfelden.

Meine Mutter wuchs in einem Bauernbetrieb auf und als sie aus der Schule kam, musste sie schauen, dass sie irgendwo arbeiten konnte. In Bad Säckingen gab es eine Fabrik, in der sie Stoff herstellten. Dann konnte sie zuerst die Arbeit erlernen und dort arbeiten. Das war ihr Verdienst dazumal. Es gingen sehr viele Frauen, sogar von Zuzgen und von der ganzen Umgebung, in diese Fabrik arbeiten. Sie liefen über den Berg und bis zur Fähre nach Mumpf, um nach Bad Säckingen zu kommen. (Anmerkung: Das war doch ein Fussweg von zweieinhalb Stunden hin und zurück, was in dieser Zeit elf Kilometer und 250 Höhenmeter Steigung bedeutete.)

Am Abend um fünf Uhr gingen sie dann wieder nach Hause. Später führte die Mutter neben dem Haushalt noch den Spezereiladen. Die verheirateten Frauen waren zu dieser Zeit alle Hausfrauen.

Marie wurde grösser und fing auch an, in der Küche zu helfen. Man kochte auf einem Feuerherd. Sobald man mit dem Kochen begann, machte man das Feuer grösser und im Wohnzimmer wärmte es automatisch die „Chaust“. Diese war doppelstöckig, es gab eine obere und eine untere Ofenkunst. Mein Vater legte sich immer auf die Untere, Marie und später dann ich auf die Obere. Dabei haben wir unsern Vater von oben gekitzelt. Das war ein Gaudi.

Dank dieser Chaust war es auch im Gang und im ganzen Haus warm, man fror nie. Speziell auch im Winter, wo es kalt war und es Schnee hatte. Das Haus war zuerst ein Riegelhaus, also nur aus Holz, und dann machte man einen Verputz darüber. Es gab noch keine Gerüste, sondern nur solche Amateurgerüste. Also mussten unten immer zwei stehen und das Gerüst festhalten und befestigen. Dann wurde der Zement in „Büttenen“ hochgetragen und oben in „Gelten“ umgekippt. Nachher konnte man Zement daraus nehmen und damit die Wand verputzen.
Das war noch Handarbeit. Wie in der Waschküche auch. Eine Waschmaschine gab es noch nicht. Wir hatten eine Badewanne, also es war keine Badewanne, wie wir sie heute kennen, sondern eine grosse Blechwanne. Wir hatten auch nicht wirklich ein Badezimmer, sondern nur eine Toilette mit einem „Brünneli“. Die Badewanne war unten im Waschraum. In diese machten wir auch die Hemden und Hosen, die zu waschen waren und füllten sie mit Wasser auf. Dann gab die Mutter etwas Persil dazu und stocherte mit einem Saugnapf darin herum. Zusätzlich hatten wir auch eine grosse Wanne auf einem Bock mit einem Waschbrett darauf. Dort wusch meine Mutter auch des Öfteren. Es gab aber auch Familien, die keines der beiden hatten und diese wuschen im Fischingerbach, unten bei der Fähre.

Wir hatten sogar einen Herd. Zuerst einen, der nicht richtig funktionierte. Dann meinte mein Vater, entweder haben wir einen Richtigen oder gar keinen. Also schauten wir für einen neuen Herd, welchen wir dann bei der Firma Geiser und Kompanie Langenthal kauften.

Der neue Holzherd hatte einen eingebauten Wasserspeicher. Diesen konnte man mit Wasser füllen, welches dann warm wurde. Von dort aus machte mein Vater eine Leitung, die heute noch im Elternhaus ist, bei der man warmes Wasser rauslassen konnte. Sobald es in dem Behälter sprudelte, wusste man, dass das Wasser warm war, dann konnten wir alle in der Badewanne baden.

Franz kommt auf die Welt
Dann kam ich am 22. Oktober 1922 in Mumpf auf die Welt. Ich wuchs ebenso in der Familie auf und merkte schnell, dass ich es bei meinem Grossvater, der nebenan wohnte, auch sehr schön hatte. Der Grossvater hatte einen etwas dunkleren Hauttyp, wie ich heute auch, er hatte lockige Haare, immerzu eine Pfeife im Mund und glich so einem Italiener. Er erzählte mir Geschichten und spielte mit mir. Er hatte selber schon vier Söhne und freute sich extrem über seinen Enkel. Ich war sein Ein und Alles.

Wenn meine Mutter mich manchmal suchte, wusste sie immer, dass ich bei Grossvater war. Auch mit Marie hatte ich es sehr gut. Wir beide verstanden uns prächtig und halfen uns gegenseitig. Natürlich flogen auch hin und wieder die „Fätzen“, wie das halt so ist bei Geschwistern, aber alles in allem waren wir beste Freunde und immer für einander da.
image004Marie im Hintergrund und Franz vorne.

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Am Abend nach dem Nachtessen mussten Marie und ich immer den Abwasch machen. Entweder wusch Marie das Geschirr und ich trocknete ab oder umgekehrt. Die Mutter musste am Abend gelegentlich nochmal in den Laden, da gab es mit denen meistens noch Gespräche. Auch am Samstag mussten wir manchmal der Mutter helfen, da viele Leute zum Einkaufen und für einen Schwatz vorbeikamen. Entweder Marie oder ich musste die Treppe spänen oder das Wohnzimmer putzen. So teilten wir uns die Arbeit auf und wechselten uns ab.

Damit es im Laden auch genug Material hatte, kamen unter der Woche immer sogenannte Handelsreisende. Diese wollten ihr Material an den Laden verkaufen. Es kamen meistens dieselben drei Reisenden. Sie boten Zucker, Mehl, Eier und so weiter an und machten so auch Werbung für ihr Geschäft. Wenn dann Marie oder ich gerade unten waren, bekamen wir manchmal ein Stück Schokolade.

Zum Beispiel Herr Ärni kam von Aarau, er verkaufte uns meistens Zucker und Mehl. Dann kam ein anderer von Basel, dieser hatte nur Eier. Er verhalf mir später auch an meine Lehrstelle in Basel zu kommen. Dann kam einer der hiess Herr Bollak, er verkaufte dem Laden Kleider. Von diesem kaufte die Mutter manchmal ein paar Kleidungsstücke ab, wie Jupes und Blusen. Nach der Bestellung schickten die Geschäfte der Reisenden die Ware ab und nach etwa acht Tagen bekamen wir einen Zettel vom Bahnhof, dass die Ware angekommen ist. Diese Ware musste man dann am Bahnhof abholen. Es gab noch keine Lastwagen. Mein Vater hatte dann eine Idee. Er meinte, wir haben ein kleines „Brütschenwägeli“ und könnten uns doch noch einen Hund anschaffen. Er wollte einen echten Bernhardiner mit einem Geschirr. Als wir diesen dann bekamen, spannten wir den Hund manchmal an den Wagen und liefen mit ihm zum Bahnhof. Der Bahnhof-Aufgang war nicht wie er jetzt ist, sondern man musste fast bis nach Wallbach auf der Landstrasse gehen. Dort wo rechts der Abzweiger nach Wallbach war, bog man links zum Bahnhof ab. Das war gelegentlich die Aufgabe von Marie und mir. Manchmal mussten wir aber auch beim Grossvater nebenan beim Heuen helfen. Man musste immer demjenigen helfen, der gerade Arbeit hatte.

image006Bald ist das Fuder geladen.
image007Pause für Vater Albert, Franz, Marie ...
image008...und Mutter Hedwig.
 
Die Strasse vor unserm Haus hatte bis 1925 „Bsetzistei“, von Basel bis nach Brugg. 1926 wurde sie dann von Mumpf bis nach Möhlin geteert. Als die Strasse dann frisch gemacht war, spielte ich einmal am Abend mit Heidi in der Bäckerei gegenüber. Heidi war die Tochter des Bäckers und wir sassen immer zusammen. Als meine Mutter mich dann zum Abendessen rief, sprang ich über die Strasse und blieb am Teer hängen. So schlug ich mir die Zähne aus. Der Nachbar vom Hotel Sonne hatte ein Auto und brachte mich nach Bad Säckingen zum Zahnarzt Frommherz. Ich kann mich nur noch daran erinnern, dass ich in einen Schlaf versetzt wurde. Es wurde mir erzählt, dass sie mich nicht mehr aufwecken konnten. Im Gang gab es einen Teppich und auf diesem rollten sie mich dann hin und her, bis ich wieder aufwachte!
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1929 wurde ich eingeschult und darauf freute ich mich riesig. Im ersten halben Jahr, als ich in die Schule kam, gab es erst einen Lehrer, der alle Klassen von der ersten bis zur achten unterrichtete. Nach diesem Semester gab es dann noch einen neuen Lehrer und somit teilten sie sich die Klassen auf. Der eine hatte die erste bis zur vierten Klasse und der andere die fünfte bis zur achten Klasse. Ich war zufrieden mit der Schule und ging sehr gerne hin. Natürlich gab es auch Fächer, die mir nicht so gefielen, aber zum Beispiel Geometrie und Geografie mochte ich sehr. Im Herbst hatten wir vier Wochen Ferien, weil wir während dem Sommer nur zwei Wochen hatten und auch das nur, wenn es schönes Wetter war. Die vier Woche Herbstferien waren reserviert für die Ernte der Kartoffeln und der „Durlipse“. (Anmerkung: Die Fricktaler sagen der Runkelrübe „Durlips“).

Alle Kinder halfen bei den Bauern, ich meinem Grossvater. Wenn wir dann nach diesen vier Wochen wieder in die Schule kamen, mussten wir am ersten Tag in die Kirche.

Wir hatten immer am Morgen bis um elf Uhr Schule, dann war Mittagspause und um ein Uhr ging es wieder weiter. Im Winter arbeiteten die Väter immer im Wald, meistens bei der Schönegg oder bei der Mumpfer Fluh, da man viel Holz brauchte zum Heizen und Kochen. Also mussten Marie und ich ihnen immer um elf Uhr das Mittagessen bringen. Wir kamen von der Schule nach Hause und holten die Kessel mit feiner Suppe bei der Mutter ab. Diese mussten wir den Vätern auf die Schönegg bringen. Die Schönegg ist ein Hotel am Fuss vom Chriesiberg. Es gab noch zwei Nachbarn, welche keine Kinder hatten, also brachten wir diesen das Mittagessen auch noch. Die Männer wollten die Militärgamellen, damit man die Suppe auf das Feuer stellen konnte und diese warm blieb. So hatten sie um 12 Uhr immer warmes Essen. Wir assen dann nachher, als wir wieder zu Hause ankamen.

Es war eine rechte Strecke von Daheim bis zur Schönegg hinauf, aber mit Marie war es immer kurzweilig. Für die zwei Kilometer benötigten wir eine halbe Stunde.

Allgemein war die Kindheit mit Marie sehr schön. Wir mussten zwar viel helfen, aber wurden manchmal auch belohnt. Wenn die Mutter Stoff brauchte, holte sie den immer zu Fuss in Wallbach bei Frau Herzog, in der Roten Gasse ab. Wenn man brav war, durfte man mitgehen! Also durften Marie und ich sie manchmal begleiten. Des Öfteren liefen wir anschliessend beim Laden von Anni vorbei. Anni war eine gute Freundin der Mutter. Wir bekamen dann immer ein Schoggi-Stängeli von ihr. Anni kam zu der Zeit, als Wallbach keine Kirche hatte, immer nach Mumpf zu uns in die Kirche. Nach der Messe kam sie dann manchmal herüber, um mit meiner Mutter zu reden und wir umgekehrt auch, wenn wir in Wallbach waren.

Es gab am Dienstag und am Freitag immer die Schülermesse. Am Sonntagmorgen um sieben Uhr war die Frühmesse und um neun Uhr war sogenanntes Amt. In die Frühmesse gingen meistens nur die Frauen, da sie nachher das Mittagessen kochten. Ich ging immer mit der Schule um neun Uhr in die Kirche. Die erste und die zweite Klasse durfte in der ersten Bank sitzen und dann die dritte und vierte und so weiter bis zur achten. Die Frauen sassen auf der linken Seite der Kirche und die Männer auf der rechten. Man durfte noch nicht gemischt sitzen wie heute. Die Pfarrer hatten damals noch ihre Köchinnen. Als die Männer dann vom Gottesdienst nach Hause kamen, stand ein leckeres Mittagessen bereit. Zum Beispiel Gemüsesuppe und ein feiner Braten oder ein Hase mit Kartoffelpüree. So hatte man die Familie beisammen. Es gab noch keinen Fernseher und selten einen Radio.

Aber es gab Spiele. So spielte man den ganzen Sonntagnachmittag „Eile mit Weile“, „Nünistei“, „Chettenespiel“ und so weiter und so wurde es nicht langweilig. Als wir älter waren, fingen wir auch an mit Jassen, weil unser Vater immer Jassen ging. Am Abend nach dem Nachtessen spielte man noch bis um zehn Uhr, dies aber mehr im Winter. Im Sommer hat man immer draussen gespielt, bis es dunkel wurde, dann mussten wir ins Bett. Von der Küche aus kam man durch eine Tür ins erste Schlafzimmer und wenn man weiter lief in zwei weitere Schlafzimmer. Das eine gehörte mir und das andere Marie. Ich hatte das mit Fenster, weil das Marie nicht wollte. Sie hatte im Zimmer mit den Fenstern Angst. Unsere Mutter brachte uns immer ins Bett und kam später noch vorbei, um „Gute Nacht“ zu sagen. Als wir kleiner waren, sang sie uns vor: „Bimlet s’Glöggli, Bimblet s’Glöggli, de Tag isch vergange und jetzt gang i ins Bett.“

Am Morgen wurden wir um sechs Uhr geweckt und dann assen wir Frühstück. Da hatte die Mutter schon alles eingerichtet und angefeuert. Dazu benötigte sie Zeitungen und feine Holzspäne. Nach dem Frühstück wusch man sich und putzte die Zähne, dann konnte man in die Schule gehen. Die Schule lag ja gleich neben unserem Haus. Oft rief uns Mutter in der Pause und steckte uns ein kleines „Schöggeli“ zu.

Wenn wir Buben nicht wussten, was machen, spielten wir am Wasser. Wir spielten hauptsächlich am Rhein und auch am Fischingerbach. Dort bauten wir Brücken und schnappten uns hie und da eine Forelle. Wir bauten auch kleine Schiffe und liessen die dann schwimmen. Der Fischingerbach kommt von Schupfart, vom Tierstein herab und teilte sich beim Wasserfall in der Bachtale in zwei Teile. Der obere Teil floss als kleines „Bächli“ weiter. Der untere Teil fliesst als Fischingerbach in den Rhein. Wenn wir die Schulgasse, die Strasse neben unserem Haus, manchmal wischten, übernahm ich die eine Seite bis in die Hälfte und die Leute von der Post nebenan die andere Hälfte. Den Abfall, welcher entstand, entsorgten wir dann in den Bach, welcher zum Rhein ging. Als es das nächste Mal regnete wurde dann alles weggeschwemmt.

Das Leben im Dorf
Das kleine „Bächli“ floss durch das Dorf, was heute noch so ist, aber einfach in den Dohlen. Es ging zuerst durch die Mühle. Oberhalb von Mumpf gab es eine riesige Mühle. Sie hatten zwei Arbeiter und zwei Haflinger Pferde, mit denen sie manchmal zum Bahnhof gingen und Ware abholten. Diese Mühle gab es bis in die 50er Jahre.

Auch die Sägerei Mumpf wurde von dem Bächli über ein Wasserrad bedient. Die Sägerei gehörte dem Bruder meines Schwiegervaters, welcher auch der Götti von Hildegard, meiner späteren Frau, war. Die Sägerei verholzte die Bäume aus dem Wald und schreinerte gewisse Sachen. Mein Vater machte damals selber schöne Holzleitern mit sogar vierzig „Zeigeln“. Das war die grösste Leiter, die man an einen Baum stellte. Er machte diese Leitern hinter dem Haus, wenn das Wetter schön war. Er musste schauen, dass die Löcher auf beiden Seiten aufeinander stimmen, dass die Zeigel hineingehen. So machte er den Bauern Leitern. Sie bestellten beim „Bärti“ eine „Zwänzger“- oder eine „Drissgerleiter“.

Das war dann Holz, welches man aus der Sägerei holte. Das Holz für die Leitern musste stabil sein, meistens Buchen- oder Akazienholz. So verdiente er manchmal noch Geld dazu, viel war es natürlich nicht. Er musste zuerst das Material einkaufen und dann kamen noch die vielen Stunden dazu, das zählte sich am Schluss dann nicht so. Aber er machte es gerne hinter dem Haus. Hie und da schaute jemand zu und da entstand auch oft eine Plauderei.

Bei der Sägerei holten wir vor dem Metzgen Sägemehl zum Feuern. Sägemehl ist gut, weil kein Rauch entsteht und die Glut lange anhält.

Die Sägerei lieferte auch viel Holz für den Bootsbau in Mumpf. Das Geschäft machte nicht nur Weidlinge und Pontos für die Pontoniere, sondern auch Fährschiffe aus reinem Holz. Früher war dort die Flösserei. An die ankommenden Flosse mag ich mich noch gut erinnern.

Die Flösser brachten und holten Ware. Sie sind dann beim Fähristeg eingefahren, bis sie auf den Grund aufgelaufen sind. Die Flosse waren aus Balken zusammengebunden und ziemlich gross.

Dann kamen langsam die Weidlinge und Fährschiffe auf. Diese wurden alle in Mumpf gebaut, mein Vater ging auch des Öfteren mithelfen. Das Haus, in welchem sie die Schiffe herstellten, steht immer noch. Die Pontos wurden aus drei Teilen und massivem Holz der Sägerei zusammengesetzt. Verkauft wurden sie bis nach Birsfelden und Basel. So waren alle Fähren, die in Basel auf dem Rhein verkehrten, aus Mumpf.

Es gab eine Bäckerei in Mumpf. Dieser Bäcker machte unter der Woche nur Brot. Am Wochenende backte er zusätzlich feine Gipfeli und Schnecken. Von den „Schnecken“ schwärme ich immer noch! Sie waren viel grösser als heute, kosteten aber nur 25 Rappen. Doch auch die 25 Rappen musste man haben!


Wenn man Richtung Obermumpf geht ist linkerhand der vorhin schon erwähnte Bachweiher «Bachtale», bei welchem sich der Fischingerbach teilt. Dieser Weiher gehörte der Gemeinde Mumpf und er wurde immer verpachtet an den Sonnenwirt. Er setzte Fische aus, stellte einen Weidling zur Verfügung, damit die Kurgäste Fische fangen konnten.

Wenn man bei der Obermumpferstrasse unter der Bahnunterführung durchging, kam man über eine grosse Brücke, die heute nicht mehr existiert und erreichte dann die Sandgrube. Diese hatte eine grosse Bedeutung für das Fricktal, da es in Frick eine Ziegelfabrik gab, die den Sand benötigte. Die Bauern hatten extra Wagen, bei denen man auch das Pferd anspannen konnte, um mit dem roten Sand nach Frick zu fahren. Es war ein besonderer roter Sand, der für spezielle Ziegel gebraucht wurde. Oben an dieser Sandgrube, war der Scheibenstand für die Schützen. Auf diese Scheiben wurde von der anderen Seite her auf dem Kapf, wo das Schützenhaus stand, geschossen. So konnte ich am Samstag oder Sonntag dort manchmal diese Scheiben aufstellen gehen und damit einen „Batzen“ verdienen.

image010Am Sonntagnachmittag vor dem Hauseingang.
Im Dorf gab es zu dieser Zeit gerade mal einmal einen einzigen Zuzüger namens Herr Ritter, der die Mühle übernahm. Das Dorf war katholisch und durch ihn bekamen wir einen Reformierten. Er wurde sogar für zwei Perioden in den Gemeinderat gewählt. Folge dessen war er ein Rechter, da Mumpf ein konservatives Dorf war und er sonst nicht gewählt worden wäre.

Im Winter entstanden immer schöne Schlittenpartien vom Zuzgerjoch herunter, bis zu der „Sonne“ an der Hauptstrasse. Wir konnten sogar über die Strasse fahren, da man die Autos, die wenigen die es gab, hätte kommen sehen. Autos gab es nicht sehr viele im Dorf. Genaugenommen drei. Der Vieh-Händler, der Sonnenwirt und der Mühlenbesitzer hatten eines. In Wallbach gab es nur zwei. Dort hatten der Pintenwirt und Herr Schönmann ein Auto.

Zu Hause hatten wir einen Schweinestall mit zwei Schweinen. Und dann noch Hühner und Hasen. Wir sind armselig aufgewachsen, doch es war eine schöne Zeit. Das Schönste war, wenn der Grossvater draussen war und „dängelet het“. Dängele heisst, dass die „Sägese“, die Sense geschliffen wird. Dies hat er immer vor dem Haus gemacht und ich sass daneben.

Gegenüber von meinem Elternhaus stand ein grosses Hotel, die Sonne. Schon ab 1855, als die Flösserei zurückging, kamen Mumpfer Wirte auf die Idee, Solbäder anzubieten, zuerst im Anker, dann in der Sonne und schliesslich auch auf der Schönegg. Dadurch wurde Mumpf zu einem Blütendorf. Es kamen jeden Sommer viele Kurgäste, im Durchschnitt sechzig bis siebzig an der Zahl. Es waren meist Schweizer, selten Ausländer, so konnte man mit allen sprechen. Es kamen manchmal auch Kurgäste zum Grossvater nebenan, wenn er vor dem Haus sass und liessen sich Geschichten erzählen. Er erzählte ebenso gerne wie ich es heute tue. Alle Kurgäste hatten Freude an ihm und seinen alten Geschichten.

Ich denke, dass von da her ein wenig die „Feindlichkeit’’ kommt, welche zwischen Wallbach und Mumpf herrscht. Man könnte es auch einfach den normalen Dorfrivalitäten unterordnen, zumindest heute. Aber früher basierte der kleine Dorfstreit sicherlich auf Neid. In Wallbach gab es viel längere Zeit noch ausschliesslich Bauern und das Dorf war ein reines Bauerndorf, das viel weniger gepflegt wurde wie Mumpf. In Mumpf hingegen wurden die Strassen herausgeputzt, auf den Brunnen wurden schöne Blumen platziert und es gab sogar Anordnungen, welche besagten, dass die Miststöcke viereckig sein mussten. So konnte ein einheitliches Dorfbild entstehen. Auch das Abwasser, das noch offen auf dem Naturweg lief, wurde dann unterirdisch abgeleitet, da viele Kurgäste durch das Dorf spazierten. Am Mittwoch hatten wir in der Schule immer eine Stunde lang Singen. Im Sommer machte der Lehrer dann das Fenster auf. Wir sangen noch die schönen, alten Lieder und die Kurgäste, die vorbeiliefen, blieben dann stehen und hörten uns zu. Wir hörten sie dann immer von unten applaudieren und sie gaben uns manchmal etwas in unsere Reisekasse.

Es gab die Schönegg, die Sonne, den Anker, den Adler und die Glocke als Restaurants in Mumpf. Die Schönegg, der Anker und die Sonne waren auch ein Hotel. Die Sonne war ziemlich gross und hatte 60 Zimmer. Als das mit den Solbädern anfing, hatten die Hotels zuerst nur Holzfässer, in denen man baden konnte. Familie Bretscher waren die Wirtsleute auf der Schönegg. Sie hatten zwei Söhne und eine Tochter. Der eine Sohn war Bauer und der andere führte das Solbad-Hotel. Im Sommer half man sich gegenseitig. 1928 brannte die Schönegg ab, aber man baute sie dann wieder auf.

Die Sole für die Solbäder kam von der Saline Riburg und man brachte sie in einem Güllenfass auf einem Wagen. Dieser wurde von Pferden gezogen und nach Mumpf in die Sonne, in den Anker und auf die Schönegg gebracht. Bier lieferten sie von Rheinfelden ebenfalls in Fässern und stellten diese direkt unter das Buffet im Restaurant. Gekühlt wurde das Bier durch eine ca. ein Meter lange Eisstange, welche in einem Behälter neben dem Fass stand.

Nach 1930 baute der Sonnenwirt das Strandbad. Am Mittag zwischen elf und ein Uhr kamen manchmal scharenweise Leute von Basel her, da es von Basel bis Mumpf am Rhein entlang kein Strandbad gab. Diese Leute fuhren mit dem Zug an und mussten vom Bahnhof bis zum Strandbad laufen und das waren doch 1.5 Kilometer. Damit im Strandbad ein Kiosk geführt werden konnte, bekam das Strandbad das Essen vom Restaurant Sonne. In der Sonne gab es zwei Profiköche, welche immer mit dem Auto das Essen ins Strandbad fuhren und so konnten die Gäste auch im Strandbad bewirtet werden.
image011Das Strandbad in einer Luftaufnahme 1934.

image012Umzug der Zwerge
Dorffeste
Zum Dorfleben gehörten dank den Dorfvereinen natürlich viele schöne Dorffeste. Es gab den Männerchor, die Pontoniere, den Turnverein und die Dorfmusik als Hauptvereine. Der Männerchor galt dazumal etwas, er wurde vom Wallbacher Kym dirigiert. Er war Lehrer in Möhlin und er machte an diesen Festen dann auch immer mit.

Man hatte noch keine Festhütten, sondern feierte im Freien. Die Feste konnten somit nur bei schönem Wetter stattfinden. Wenn beispielsweise ein Verein seine Fahne weihen wollte, gab es eine Fahnenweihe und ein grosses Fest mit einem Umzug. Ein Lehrer wurde dazumal vom Dorf gewählt und konnte dann Wohnsitz nehmen und ins Dorf heiraten. Früher regierte der Gemeindeammann, der Lehrer und der Pfarrer das Dorf, man ehrte und bewunderte sie. Ein Lehrer, den wir mal hatten, war ein begabter Mann, um solche grossen Umzüge zu machen. Diese wurden zum Beispiel so gestaltet, dass es ein Schneewittchen gab und die sieben Zwerge. Die Frauen vom Dorf nähten die Kostüme für alle. Dann gab es noch die Prinzessin und den Prinzen, die wurden auf einem Wagen gezogen, und einmal bei einer Fahnenweihe hatte ich das Glück, der Prinz zu sein.

Hintendran kamen dann noch der König und die Bauern, der eine hatte eine Kuh, der andere ein Pferd, um die Bauern darzustellen. Die Frauen hatten die Kochschüsseln in der Hand und waren angezogen, als wären sie in der Küche. Das waren immer schöne Feste, sie fingen am Mittag an und dauerten meistens bis um sechs Uhr. Aber es gingen dann nur diejenigen nach Hause, die in den Stall mussten.

Apropos Stall; was auch immer sehr schön war, war die „Metzgete“. Diese fand meistens im Februar und September statt und es war immer ein grosses Fest. Sobald die Sau das Mass von 1.20 Meter um den Brustkorb erreichte, kam sie dran. Der Dorfmetzger schlachtete sie immer draussen hinter unserem Haus. Dann hing man sie 14 Tage an „Büttene“ am Fleischhaken auf und begoss sie jeden Tag mit dem „Suug“. Dann hängte man sie in die Rauchkammer. Als man sie dort abholte, hängte man den Speck zu Hause im Kamin auf.
image013Laura reitet auf einer Sau

image014Laura und Lilly
Die Familie wird grösser
Marie und ich bekamen viel später noch zwei kleine Schwestern. Lilly kam 1930 und Laura 1932 zur Welt.

So ergab es sich auch, dass ich mit Marie die intensivere Beziehung hatte, als zu den anderen beiden Schwestern. Natürlich waren wir eine Familie und hatten es alle gut miteinander, aber die vielen Erlebnisse, welche ich mit Marie in meiner frühen Kindheit erlebte, konnte uns keiner mehr nehmen.

Wir besassen keine eigenen Velo’s. Wir durften das Velo von den Grosseltern mütterlicherseits auslehnen. So auch am Wintertag 2. Dezember 1932. Ich brachte es am Abend um sechs Uhr zurück und da war es schon finster. Unglücklicherweise, in Anbetracht dessen wie viele respektive wenige Autos es dazumal gab, fuhr mich unten beim Restaurant Glocke ein Auto auf der Strasse an. Der Fahrer merkte dies nicht und fuhr nach Hause. Er wurde jedoch unmittelbar darauf aufmerksam gemacht und kam zu mir, um zu schauen wie es mir ging. Er brachte mich schliesslich nach Hause und meine Mutter berichtete sofort dem Doktor, was passiert war. Im Dorf Stein wohnten zwei Doktoren, Doktor Hinden und Doktor Bollag. Meistens rief man Doktor Bollag. Dieser brachte mich dann schnell nach Rheinfelden ins Krankenhaus, wo sie einen Schädelbruch feststellten, aufgrund dessen ich schliesslich operiert werden musste.

Die Operation dauerte sehr lange und ich wusste nachher von all dem nichts mehr. Sie mussten mir viele Schädelknochensplitter entfernen. Ich wachte erst am 23. Dezember wieder aus dem Koma auf und merkte, wie fest ich verbunden war. Man sah nur noch die Augen, die Nase und den Mund.
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Der Rest war unter dem Verband versteckt. So musste ich bis Anfangs Februar herumlaufen. Dann nahmen sie mir endlich den Verband weg und ich bekam ein Béret. Dieses wurde mit Wolle gefüllt, sodass es weich war und ich einen Schutz vor Schlägen auf den Kopf hatte. Ich durfte nicht rennen, sondern nur langsam laufen und gar nicht spielen. Ich hielt mich aber sehr daran, da es ja für mich gut war. Wir wohnten gerade neben der Schule und ich hörte immer, wenn meine Klasse Pause hatte. Dann schaute ich ihnen manchmal beim Spielen zu und wenn sie Sport hatten, ging ich ihnen auch beim Turnen zuschauen. Ich dachte dann immer: Wenn ich dies nur auch tun dürfte. Dann musste ich Ende Februar nach Zürich in die Klinik Burghölzli, Balgrist, das ist eine Einrichtung wie in Basel die Friedmatt, zur Untersuchung.

Ich musste zu einem speziellen Arzt, Doktor Braun gehen und wohnte zur Genesung vier Wochen lang in dieser Klinik. Die Mutter brachte mich mit dem Zug nach Zürich. Dort fand ich schnell einen Kollegen, der gleich alt war wie ich und auch aufgrund eines Unfalles in der Klinik war. Ich machte dann viel mit diesem Kollegen und wir „sauten“ im Hof herum. Wir pflegten auch nachher noch lange den Kontakt. Es gab Wagen, in denen sie das Essen transportierten, es gab verschiedene Abteilungen. Am Tag wurde ich mehrmals von Krankenschwestern geholt und es wurden viele Kontrollen gemacht, ob mit den Ohren und den Augen alles in Ordnung war. Die Schwestern sind dann mit mir im Tram, in ein Spital oder in eine Klinik gefahren, wo die Untersuchung stattfand.

Einmal an einem Sonntag, gingen wir in der Klinik in die Kirche, in eine reformierte Messe. Und dort drehte einer dann durch, das vergesse ich nicht mehr! Am Samstag und Sonntag kamen immer der Vater und die Mutter nach Zürich zu Besuch.

Im Mai musste ich dann eine Aufnahmeprüfung in der Schule ablegen. Der Inspektor war der christkatholische Pfarrer Burkhard. Die ganze Klasse musste die Prüfung schreiben, aber nur bei mir zählte sie. Ich bestand sie gut und konnte dann wieder zur Schule gehen. Ich verpasste schon viel Stoff, aber da ich vorher immer viel lernte, konnte ich diesen schnell wieder aufholen.

Berufsleben
Ich wollte immer Schreiner werden, weil mein Vater auch Schreiner war und sehr schöne Sachen gemacht hat. Da ich aber vom Unfall her immer noch Schwierigkeiten hatte, durfte es keine schwere, körperliche Arbeit sein. Dann wollte ich eigentlich gerne Koch werden, dies war jedoch auch nicht möglich, da man als Koch ständig von Dampf umgeben war, was für meinen Schädel wiederum nicht gesund gewesen wäre. Also entschied ich mich schlussendlich für eine Lehre als Coiffeur. Dank einem der Reisenden unseres Ladens, der aus Basel kam, fand ich eine Lehrstelle in Basel beim Coiffeur Geschäft Hodel & Sohn. So konnte ich 1937 die Lehre beginnen. Am ersten Tag wurde ich von meiner Mutter nach Basel begleitet, da ich vorher noch nie in Basel war.

Die Zugfahrt dauerte dazumal 35 Minuten. Der Lehrmeister sagte immer zu mir, ich dürfe kein Tram vom Bahnhof nehmen, sondern zu Fuss bis zum Geschäft laufen, weil ich am Morgen von 8 Uhr bis 12 Uhr und am Nachmittag von 13.30 bis 19.30 Uhr im Geschäft war, so war ich auch mal draussen an der frischen Luft. So lief ich also jeden Morgen und Abend und es tat mir gut. Das Geschäft „Hodel & Sohn“ war im Kleinbasel und dort kamen eher die wohlhabenderen Kunden vorbei. Der Sohn führte den Damensalon und Hodel, der Vater und die Lehrlinge arbeiteten im Herrensalon. Wenn man ins Geschäft kam, war zuerst ein Verkaufslokal, in dem die Rezeption war, bei der man sich anmelden konnte. Dort hatten wir auch viele Produkte, wie Shampoo und Parfumerie verkauft, für das war extra eine Verkäuferin angestellt. In den 30er Jahren wurde dann aber das Kaufhaus „Rheinbrücke“ gebaut. Hier wurden verschiedenste Artikel verkauft, für den Haushalt, Lebensmittel etc. Und sie verkauften auch noch viele Parfumerieartikel und so verloren die Coiffeurgeschäfte ihren Umsatz mit diesen Artikeln.

Wir waren im Geschäft zwei Lehrlinge, der andere war schon im dritten Lehrjahr als ich im ersten war. Wir mussten zum Beispiel Servietten zusammenlegen und diese wurden dann gepresst. Am Anfang musste ich viel zuschauen bis ich eigene Kunden bedienen durfte. Ich hatte es schnell in den Händen und liebte den Beruf sehr. In der Lehrzeit durfte ich eigentlich nur Männer bedienen, aber als der Ansturm manchmal sehr gross war, durfte ich auch die Damen bedienen. Dazumal wurde der Beruf noch von Hand betrieben, man hatte keine elektrischen Maschinen. Erst gegen Ende der Kriegszeit kamen elektrische Haarschneidegeräte auf. Bei den Herren wurde meistens Bartschneiden und Haareschneiden verlangt. Es kamen auch viele Herren nur zum Rasieren. Normales Haareschneiden kostete 2.20 Franken und die Dauerwellen kosteten ca. 5 Franken. Der Coiffeurlohn war in der Woche 120 Franken, also im Monat 480 Franken. Als Lehrling verdiente man aber nur 5 Franken in der Woche, also 20 Franken im Monat. Am Coiffeur Beruf gefiel mir am besten, dass es sehr vielfältig ist. Zu dieser Zeit gab es nicht viele Coiffeurgeschäfte und sie wurden ausschliesslich von Männern geführt. Es gab noch keine Coiffeusen. In Mumpf zum Beispiel gab es kein einziges Coiffeurgeschäft. Dort schnitt ein Mann, der Schneider von Beruf war, allen die Haare. Er beherrschte es einigermassen.

Über den Mittag traf ich mich meistens mit zwei guten Freunden aus Rheinfelden und ass mit ihnen „z’Mittag“. Wir gingen immer in die drei gleichen Restaurants, in den „Lällekönig“, in die „Walliserkanne“ oder ins „Bahnhofbuffet“. Im Bahnhofbuffet gab es ein Abonnement, womit man dann immer essen gehen konnte. Das Essen war allgemein sehr günstig, aber am günstigsten im Bahnhofbuffet, dort gab es immer sehr gute Gemüsesuppen für 1.20 Franken.

Ich musste auch in die Gewerbeschule, dort waren wir 23 Lehrlinge. Die Schule war in zwei Teile aufgeteilt, in den fachlichen und in den kaufmännischen Teil. Im ersten Jahr lernten wir auch „Postiche“, das war das Fach, in dem man Perücken, Bärte und Zöpfe machte. Im Geschäft, in dem ich die Lehre machte, hatten wir extra einen Raum, in dem wir Perücken und Zöpfe herstellten, die wir dann verkauft haben. Dazumal legten die Leute noch grossen Wert auf richtige, schöne Frisuren. Man war zwei Tage in der Gewerbeschule, also ein Tag im Kaufmännischen und in der Buchhaltung, ein Tag im Fachlichen und drei Tage im Geschäft. Nach dem 1. Lehrjahr musste man eine Art Aufnahmeprüfung machen, ob man fähig war oder nicht, den Beruf zu lernen, diese bestand ich sehr gut und auch der weitere Verlauf der Lehre konnte ich gut hinter mich bringen.

Nach dem dritten Lehrjahr 1940 gab es dann schliesslich in jedem Fach eine Abschlussprüfung, welche ich alle bestand. Danach war für mich eine Weiterbildung als Damencoiffeur das nächste Ziel. Ich arbeitete ein Jahr als „Volontär“ in der Rosentalstrasse beim Coiffeur Künzli und machte dort die Weiterbildung zum Damencoiffeur. Im Damensalon gab es dazumal meistens die Dauerwellen, die Wella, diese hatten einen starken Geruch und viele vertrugen dies nicht. In dieser Zeit kamen langsam auch Coiffeusen auf.

In meiner Freizeit ging ich immer mit den Jungs in die Jungmannschaft und die Mädchen gingen zum Blauring. Wir trugen weisse Hemden und eine weiss-blaue Krawatte als unser Tenü. An den Sonntagen hatte man dann immer Treffen. Es gab einen guten Pfarrer in Wallbach, welcher diese organisierte und alle zusammenrief. Dort machten wir dann verschiedene Spiele miteinander und spielten Handball oder andere Ballspiele. Da kam man dann das erste Mal mit Mädchen in Kontakt und ich lernte Hildegard Obrist kennen. Sie hatte Jahrgang 1926 und war somit vier Jahre jünger als ich. Wir verstanden uns sehr gut und machten dann auch manchmal ab.

Militärdienst im 2. Weltkrieg
Später, 1940, musste ich mit 18-jährig ins Militär einrücken. Der General, welcher zu Kriegsbeginn ernannt wurde, hiess Henri Guisan und zu gleicher Zeit war Rudolf Minger Bundespräsident. Diese beiden mussten alles handhaben und mit der unerwarteten Situation gut umgehen. An einem Dienstagnachmittag schon im Jahre 1939 brach der Krieg aus. Der Gemeindeweibel lief durch das Dorf und schrie „Mobilmachung, Mobilmachung“. Und dann mussten alle, die dienstpflichtig waren, einrücken. Nach der Mobilmachung kamen viele Leute vom Dorf in den Laden und kauften Zucker und Mehl als Vorrat. Meiner Familie ging es dank dem Laden sehr gut, auch sonst gab es nicht viel mehr Armut als sonst. Aber es gab auch Familien, die gar nichts hatten und diese mussten dann schmal durch. Zu dieser Zeit hatte aber jeder noch einen Gemüsegarten mit Kartoffeln, Kabis und Lauch etc. um das Haus herum. So konnte sich jeder gut selber versorgen.

Die Armee und der Bundesrat mussten schauen, dass es genug Soldaten hatte, weil die Schweiz überrascht wurde und das Militär war noch nicht sehr modern; es gab immer noch die alten Kleider z.B. ganz dicke Hosen, nicht so wie heute. Es mussten zwei Jahrgänge zusammen rekrutiert werden. Es wäre nur der Jahrgang 1921 zu rekrutieren gewesen und dann nahmen sie den Jahrgang 1922 noch dazu. Also musste ich auch ins Militär. Zuerst ging es nach Aarau und dort wurden wir eingekleidet. Dann mussten wir, ca. 100 Soldaten, in voller Montur mit Rucksäcken und Allem nach Suhr laufen, wo wir die ersten Einteilungen erhielten. In Suhr auf dem Kirchplatz wurden wir vereidigt und mussten den Eid schwören. „Wir schwören, dass wir für das Vaterland einstehen.“ Wir wurden dann eigentlich direkt Soldaten und waren nie Rekruten, da zu wenig Zeit für die RS war.

Wir mussten die Haare ganz kahl abschneiden wegen der Läuseplage, was mich störte, da ich meine Haare sehr gerne mochte. Es gab strenge Regeln, aber wir hatten es in meiner Einheit sehr gut und wir verstanden uns auch gut. Wir wurden einfach eingeteilt nach dem Beruf, welchen wir ausübten. Coiffeure, Schneider und Metzger zum Beispiel kamen zur Sanität. Ich kam also zur Sanität und das gefiel mir. Wir hatten etwas Sinnvolles zu tun. Die Infanterie musste stets Wache schieben und musste bereit sein vor einem Überfall oder einem Kampf. Wir sorgten uns um die Flüchtlinge, was uns erfüllte.

In Mumpf, beim Pontonierdepot gab es einen Wachposten, weil von Deutschland Flüchtlinge über den Rhein kamen. Sie hielten sich am Seil der Fähre und angelten sich herüber. Dann mussten die Soldaten, die Wache hielten, diese entgegennehmen und sie zur „Sonne“ bringen. Dort war ein Posten der Offiziere, die die Flüchtlinge entgegennahmen und diese einteilten.

Es gab leider zu wenig Kasernen für so viele Rekruten, also wurden wir verteilt. Die erste Unterkunft in meiner Abteilung war in Suhr, beim Restaurant Bären in einem grossen Schopf. Dort wurde ein Massenlager für uns eingerichtet. Es gab keine Betten, sondern ein Strohlager. Am Morgen früh um sechs Uhr war „Tagwache“, es gab Frühstück und dann hatten wir Soldatenschule. Die eine Abteilung musste Kampfübungen machen und die andere musste zu den Patienten, dann wurde getauscht.

In der Sanitätsabteilung mussten die Flüchtlinge behandelt werden. Vom weiten Laufen waren sie geschwächt. Die meisten hatten es beispielsweise in den Beinen und man musste ihnen diese oder den Rücken massieren. Die Flüchtlinge waren in Lagern und dorthin mussten wir als Sanitäter dann gehen. Wir betreuten durchschnittlich 200 Flüchtlinge in diesen Baracken, in denen sie schliefen. Wir brachten ihnen anfangs immer das Frühstück, bis sie es selber zubereiten konnten. Es war alles gut durchorganisiert. Die Flüchtlinge sprachen natürlich meist eine andere Sprache, da sie von Ungarn, Polen etc. kamen und wir verstanden sie nicht. Also schrieben wir auf eine Karte, was wir uns sagen wollten. Es gab Flüchtlinge, denen es ziemlich gut ging, diese mussten in der Armee den Sappeuren helfen, die Strassen zu festigen und zu sperren. Die Frauen der Flüchtlinge halfen den Bauern. Die anderen, welchen es nicht gut ging, wurden durch die Sanitäter wie ich einer war, betreut. Es gab Stationen in Olten, Zofingen, Rheinfelden und noch weitere. Man kam jedes Mal an einen anderen Ort.

Einmal gab es eine Untersuchung der Soldaten, um zu sehen, wie es uns so geht. Als ich an die Reihe kam, musste ich auf einen Stuhl stehen und der Doktor fand heraus, dass ich Plattfüsse habe. Er meinte, ich brauche unbedingt Einlagen. Also musste ich nach Interlaken und welche machen lassen. So bekam ich ein Billett, um mit dem Zug am Morgen um sieben Uhr nach Interlaken zu fahren. Es kamen noch zwei andere mit, die auch Einlagen brauchten. Wir kamen in ein Hotel, das auch ein Lager war, dort konnten wir diese Einlagen machen lassen. In diesem Hotel gab es eine Laube, bei der man eine Treppe hoch gehen musste. Als ich auf dieser Laube stand und nach unten schaute, sah ich Peter Riner, der aus Zeiningen kam. Er war Sekundarlehrer und wir kannten uns vom Turnen. „Eh, du bist auch da!“ Wir waren beide überrascht uns ausgerechnet dort zu treffen. Nachher konnten wir kurz miteinander reden und er meinte, wir kämen heute sicher nicht mehr zu unseren Einlagen. Sie warteten schon sehr lange in der Reihe und wir müssten uns jetzt noch ganz hinten anstellen. Es hatte sehr viele Soldaten da. Von Interlaken aus mussten wir uns dann melden, dass wir nicht mehr heute drankämen und dort übernachten mussten. Und so gingen wir am Abend Jassen und schliefen schliesslich in Interlaken. Am nächsten Tag machten wir uns dann wieder mit den Einlagen auf den Weg zurück nach Solothurn. Es waren solche Blechscheiben, welche ich schlussendlich gar nie anhatte!

Vom Krieg selber bekamen wir nicht viel mit. Das Einzige, was von der Regierung nicht gut gelöst wurde, war, dass man am Abend die Häuser verdunkeln musste. Es durfte kein Licht nach draussen kommen. Dies war ein Fehler, da die Flieger, die anflogen, nicht sahen wo die Schweiz war, so wurden Basel und Schaffhausen von Bomben getroffen. Das haben wir natürlich schon mitbekommen. Meistens am Abend, um etwa neun Uhr flogen die Flieger über die Häuser und dies war immer sehr laut.

Die Schweiz hatte einen Bundesrat, Herr Wahlen, der die Knappheit des Essens als ein Problem betrachtete. Er machte eine Regelung für den Anbau von Kartoffeln. Die Gemeinden, die Land zur Verfügung hatten, mussten Kartoffeln anbauen. So auch in Wallbach bei meinem späteren Bienenhaus oder auf den Fussballplätzen. Dieser Anbau von Kartoffeln etc. ist bekannt geworden unter dem Titel „Anbauschlacht“. Um die Mengenverteilung zu kontrollieren, gab es ausserdem ein Markensystem, welches das Essen rationierte. Jede Person hatte eine Lebensmittelmarke, mit welcher man Einkäufe tätigen konnte und ohne diese bekam man nichts.

Angst vor dem Krieg gab es als solches nicht. Angst kam auf, als Basel bombardiert wurde. Es gab zum Glück dort keine Toten, es wurden nur Häuser beschädigt. Aber man wusste nicht ob die Deutschen noch nach Frankreich wollten. Es war eine Teilkriegsmobilmachung und dann machten die Deutschen einen Angriff auf das Elsass. Hitler wollte das Elsass für sich gewinnen. Dort ging es dann langsam gegen den Frieden zu und das Elsass war gerettet.

Im Militär bekamen wir manchmal auch Urlaub, in dem man arbeiten konnte. Man konnte sich bei einem Vermittler in Basel melden, der verhalf zu einer Stelle. Dieser arbeitete im Coiffeur-Geschäft Schunke in der Dufourstrasse. Ich lernte ihn kennen, als ich nach der Lehre noch in Basel arbeitete und Kurse in der Elisabethenstrasse besuchte. Im Urlaub bekam ich Arbeit in Basel in der Gundeldingerstrasse und dann in Pratteln und in Dottikon. In Dottikon konnte ich als Damen- und Herrencoiffeur in einem grossen Geschäft arbeiten. Bei diesen Stellen war die Unterkunft inbegriffen.

Wenn man Urlaub hatte, bekam man ein Zugbillett nach Hause und wusste, wann man wiederkommen musste. Es war unterschiedlich wie lange der Militärdienst und der Urlaub manchmal dauerten und war abhängig von der Lage. Der längste Dienst war acht Wochen am Stück, das war in Solothurn. Von dort aus musste ich oft mit dem Fahrrad nach Grenchen fahren zum Flughafen, zu einem Posten des Militärs. Dort hatte es manchmal kranke Soldaten und ich musste ihnen Medizin bringen. Einen solchen Posten gab es auch in Zuchwil.

In Solothurn waren die Flüchtlinge in der Turnhalle untergebracht. Dieses Lager war gut und angenehm, gleich in der Nähe vom Restaurant Baslertor gelegen, neben der Kirche. Dort gab es eine Gasse, wo sie die Küche vom Militär für die Flüchtlinge hatten und man musste das Essen mit seiner grossen Schale „fassen“ gehen. Einmal fuhr um 12 Uhr ein Mercedes- Auto vor, von einem Wachtmeister gefahren, und es stieg General Guisan aus. Er sagte zu mir: „Bon Appetit.“

Von Solothurn kam ich nach Olten in ein Lager und dann nach Wangen an der Aare. Immer wieder dorthin, wo es gerade Baracken mit vielen Flüchtlingen hatte. Bis 1945 war ich im Militärdienst und als der Krieg dann zu Ende war hatte ich eine Stelle in Kloten und dann in Niederlenz. In Kloten, wo jetzt der Flughafen ist, war ein Flugplatz für Militärflieger und dort konnte ich arbeiten. Zuerst für einen Monat und dann für eineinhalb Jahre. Der Meister hiess Bugmann und das Coiffeurgeschäft war im Restaurant Sternen. In diesem Gebäude wohnte ich dann auch mit Kost und Logis beim Meister und verdiente pro Woche 50 Franken. Als ich das zweite Mal dort war, ging ich in Kloten in den Turnverein und lernte dort viele Kollegen kennen. Als der Krieg zu Ende war, musste die Sanitätsabteilung nochmals für 6 Wochen einrücken, um die letzten Flüchtlinge in Rheinfelden zu betreuen. Gewisse Flüchtlinge blieben hier, da sie Bekanntschaft mit einer Schweizer Familie gemacht hatten.

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Meine Schwester Lilly hatte in der Zwischenzeit auch eine Lehre als Coiffeuse gemacht. Wir entschlossen uns 1949 zusammen ein Coiffeurgeschäft in Mumpf zu eröffnen.

Da Lilly’s Freund auch Coiffeur war, hatten wir noch einen Mitarbeiter mehr. Ich war im Turnverein und Lilly in der Damenriege. Das brachte uns viele Kunden und das Geschäft lief prima. Dazumal kamen alle Leute mit dem Fahrrad zum Coiffeur. Hildegard konnte aufgrund ihres Beines nicht Fahrrad fahren und wurde dann manchmal von ihrem Bruder Walter mit dem Traktor zu uns gebracht. Ich durfte ihr die Haare schneiden. Natürlich kam sie nicht nur, um die Haare zu schneiden. Sie besass schöne, hellbraune Haare. So wurde die Verbindung immer stärker.

Heirat 1953
Als ich endlich vom Militär wieder fest zu Hause war, beteiligte ich mich wieder am Dorfleben. Auch fuhr ich oft mit Hildegard mit dem Fahrrad nach Mariastein oder durch den Wald nach Möhlin. Im Wald hatte es dann schöne Brätelstellen, bei denen wir oft brätelten. Das war eine schöne Zeit.

Hildegard erlernte keinen Beruf und bekam schliesslich von einer Frau in Mumpf den Tipp, nach Basel an eine Haushaltsschule zu gehen. Meine Mutter interessierte sich dafür und ging dann mit ihr und zwei anderen Mädchen aus Mumpf nach Basel in diese Schule, um sich zu erkundigen, wie es dort ist. Am Morgen hatten sie dann zum Beispiel Kochen und am Nachmittag Schneidern und so lernten sie alle Haushaltarbeiten. Die Schule dauerte drei Jahre und war sehr gut. Sie organisierten dann auch ab und zu Ausstellungen, bei denen man die Kleider, welche sie schneiderten, anschauen konnte. In dieser Schule lernte Hildegard dann Nelly, eine gute Freundin kennen.

Hildegard hatte mit einundzwanzig Jahren einen schlimmen Fahrradunfall. Sie fuhr am Morgen mit dem Velo an den Bahnhof und wurde von einem Auto angefahren. Da hatte sie einen doppelten und komplizierten Beinbruch, welcher schwer zu behandeln war. So war sie lange Zeit behindert und konnte nicht mehr so viel machen. Sie kam dann in ein Kurzentrum nach Madonna del Sasso bei Locarno. Ich hatte immer per Telefon Kontakt mit ihr. Ich konnte sie ja nicht besuchen. Hildegard und ich kannten uns nun schon länger und hatten es sehr schön miteinander. Der Wunsch zu heiraten wurde immer grösser. Ich sagte ihr, wenn ich heirate hätte ich gerne mindestens zwei Kinder und ein eigenes Haus. Das lag ebenso in ihrem Sinn, aber sie fragte mich dann, wie ich ein eigenes Haus bauen wolle. Ich sagte ihr dann: Musst einfach warten, bei mir musst du immer warten, es kommt alles wie es sein muss.

Wir wollten langsam zusammenziehen, also verlobten wir uns. Die Ringe kauften wir uns in Basel. Einer kostete 70 Franken. Wir verlobten uns 1950 und feierten die Verlobung am Bettag im Elternhaus von Hildegard und es kamen beide Familien zusammen. Bis zur Hochzeit wohnte ich zu Hause.

Am Tag der Hochzeit zog ich dann mit Hildegard zusammen.
Am 6. April 1953 heirateten wir schliesslich. Bei der Hochzeit war es Tradition, dass der Bräutigam die Braut vor dem Elternhaus abholt. Vom Elternhaus aus machte man dann eine Art Umzug bis in die Kirche. Zu dieser Zeit gab es nur Naturstrassen und am Tag unserer Hochzeit regnete es den ganzen Morgen. So musste Hildegard mit ihrem weissen Kleid und dem Schleier durch den Dreck bis zur Kirche laufen. Die zivile Hochzeit war am gleichen Tag im Gemeindehaus in Wallbach. Die Brautzeugen waren mein Vater und Hildegards Götti. Die Hochzeit war sehr schön und wir gingen anschliessend in die Sonne nach Mumpf essen.

Am andern Tag begaben wir uns auf die Hochzeitsreise nach Locarno. Das Billett hin und zurück kostete für uns beide 53 Franken für 14 Tage. Wir wohnten in einem Hotel in Madonna del Sasso, dort war Hildegard schon einmal, als sie Probleme mit den Beinen hatte. Nachdem wir ankamen, wurden wir in den Keller geführt, dort hatte es auch Zimmer mit Betten, da der restliche Teil des Hotels ausgebucht war. Am Morgen um vier Uhr ging dann der Lärm los, von denen, die im Restaurant arbeiteten. Also fand ich, hier bleiben wir ganz sicher nicht. Wir spazierten nach dem Frühstück an den See und sahen dort eine Tafel, auf der alle Hotels angezeigt wurden. Wir gingen eines anschauen und fanden es den Hammer, also wechselten wir in dieses Hotel. Die Reise ging dann weiter mit dem Zug durch das Centovalli, anschliessend fuhren wir via Brig nach Montreux, wo wir Nelly, die Schulfreundin von Hildegard besuchten. Wir blieben eine Woche dort, bis wir dann nach Hause fuhren.

Hildegard und ich bezogen dann eine Wohnung in Wallbach. Als später auch Lilly heiratete, wurde es zu knapp, als dass das Geschäft zwei Familien ernähren konnte. So war es ein langes Hin und Her, bis ich nach zwanzig Jahren als Coiffeur 1957 den Beruf aufgab. Es war sehr schwer für mich den Beruf aufzugeben, weil ich grosse Freude daran hatte und ihn auch beherrschte. So fand meine Mumpfer Zeit ein Ende.

Nachwort
Soweit der Bericht meines Opa’s über seine Mumpfer Zeit. Nach den Schilderungen, bei denen wir immer wieder beide lachen konnten, vertraute er mir seine wichtigste Lebensregel an. Opa sagte mir: „Weisch ich han immer Gott vor Auge gha. Im ganze Läbe immer druf vertraut, dass Gott mir hilft. Er hilft mir au hüt no. S’Bätte isch immerno s’Wichtigste. Nid nume in d’Chile goh, sondern s’Bätte.“

Autorin:
Liza Kaufmann

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