wikimumpf logo ws 1
mumpf gemeinde



Die Kunststickerin Mathilde Riede-Hurt

Ihr Leben und ihre Werke in schweren Zeiten.

Das Schicksal führt die Mumpfer Bürgerin in das schreckliche Räderwerk des Nationalsozialismus. Die Kriegs- und Nachkriegszeiten stellen sie als Mutter zweier Kinder, als Gattin eines Soldaten und als Künstlerin vor fast unlösbare Situationen. Anhand ihres Tagebuches und einigen Bildern gehen wir einem Teil ihres Lebens und ihrer Werke in diesen besonders schweren Zeiten nach.

image001Math. Riede-Hurt: junge Mutter 1936...
image002...und um 1986 in ihrem Haus in Spiez.

Mathilde Riede und ihr Umfeld
Mathilde Hurt wächst am Rhein in Mumpf auf. Hier lebt sie von 1906 bis 1934 als Kind, als Seminaristin und schliesslich als Mumpfer Arbeitslehrerin. Für die Liebe verlässt sie ihren Heimatort am Rhein, um im 300 Kilometer entfernten Ludwigshafen am selben Fluss Wohnsitz zu nehmen. Doch das Schicksal führt sie in das schreckliche Räderwerk des Nationalsozialismus. Die Kriegs- und Nachkriegszeiten stellen sie als Mutter zweier Kinder, als Gattin eines Soldaten und als Künstlerin vor fast unlösbare Situationen.
Anhand ihres Tagebuches und einigen Bildern gehen wir einem Teil ihres Lebens und ihrer Werke in diesen besonders schweren Zeiten nach.

Mathilde Riede-Hurt verbringt ihren Lebensabend am Thunersee, zusammen mit Ihrem Mann Josef. Ab 1971 in Einigen, ab 1981 im neu erbauten Haus Spiezberg in Spiez. In ihrem Alter wirken die Spuren ihres Lebens mit aller Härte nach. Zwar hat das Schicksal sie innerlich und geistig stark gemacht, jedoch zugleich ihren Körper geschunden: Stark im Denken, Kämpfen und sich Einbringen; schleichend geschwächt durch die Kriegsjahre mit ihren Entbehrungen, Enttäuschungen, Schreckmomenten. Am Thunersee befällt sie ein Lungengewebeschwund mit entsprechenden Atemnöten und eine Arthritis mit zunehmender Versteifung ihrer Finger. Mitte September 1988 stirbt Mathilde an einer Lungenembolie.

Mumpf ist ihr Heimatdorf, Fischer-, Flösser- und Schifferdorf, Bäderkurort, 300 Einwohner, Martinskirche, fünf Gasthöfe, fokussiert auf den Rhein, behütet und gleichzeitig beengt von Mumpferfluh, Chriesiberg und Schwarzwald.

Der Rhein mit den Flossen, Schiffen, Fischen und der Fähre, ein Widerstand fordernder wilder Fluss. Trotz Hochwasser ist der Rhein Kamerad, mit dem man richtig umgehen muss. Die Vorräte der Familie Hurt werden in Bottichen gelagert. Dringt durch Überschwemmung Wasser in die hohen Keller, werden diese zu kleinen Schiffen. So fährt Mathilde im eigenen Haus im kleinen Kahn und fängt die Fische im Keller von Hand, wie sie es vom Rhein her kennt.

Die Mutter: Luise Hurt-Obrist, Schwester des Sägereibesitzers Josef Obrist, Ruhepol und die Lenkerin der Familie, offen auch für Neues, belesen, auch schlagfertig. Als der Dorfpfarrer sich bei ihr über die Rockkürze ihrer Tochter Mathilde beschwert, gibt sie zurück, Hildis kurzer Rock sei ihr lieber als manch lange Soutane.

Der Vater: Eugen, ein Original. Einer der wenigen Bootsbauer am Oberrhein. Einer, der seine Fähren nicht nach Plan, sondern nach dem Holz, seinem Gespür und seinem Gefühl erbaut. Mathilde hilft zusammen mit ihrer Schwester Elisabeth bei Handreichungen mit: Wenn Vater Eugen Nägel braucht, sagt er „Läng mer e Vierzger, e Fufzger“. Der Bau der Kraftwerke versetzt ihm Dolchstiche ins Herz, weil dem Fluss die Urgewalt und die Fische abhanden kommen. “Das isch doch kei Rhy meh!“ schimpft er. In der Armee lässt er sich nicht zu den Pontonieren einteilen, sondern zu den neu geschaffenen Radfahrern.

Mathilde Hurt: Behütet, gefordert und gefördert. Reich beschenkt mit Talenten, inspiriert von der Urkraft des Rheins, der Werkstatt, der Mumpferfluh mit ihrer Natur. Mit 12 Jahren besucht sie die Bezirksschule in Rheinfelden. Wenn kein Zug fährt, legt sie die 15 km zu Fuss zurück. Sie hat immer zwei Paar Schuhe dabei, die einen für den Schulweg, die andern für die Schule.

18-jährig unternimmt sie nach der Handelsschule in Basel eine Reise nach Paris, vor allem der Kunst wegen. Doch sie hält es dort nicht lange aus, kehrt vor lauter Heimweh ins Elternhaus an den Rhein zurück. Mathilde meldet sich in der Kunstgewerbeschule in Basel an, obwohl ihre Eltern sagen, „das ist nichts für Unsereins“.

image003
1926 besucht sie das Seminar Aarau. Ein Jahr später ist sie diplomierte Handarbeitslehrerin und wirkt fortan bis 1934 in Mumpf. Sie begleitet auch die Klassen auf ihren Schulreisen wie z.B. 1928 die Oberschule in die Hauptstadt Bern (auf dem Bild ganz rechts).

Und sie inszeniert zusammen mit Oberstufenlehrer Brenner und Unterstufenlehrer Zumsteg im Jahr 1932 das Märchen „Schneewittchen und die sieben Zwerge“.

Mathilde Hurt kommt auch mit der Bauhaus-Architektur in Berührung. Obwohl das Dorf den Kopf schüttelt, zeichnet und baut sie ein Flachdachhaus für ihre Familie im Unterdorf, wo sie nach der Übergabe der Bootsbauerei an Johann Waldmeier 1930 Wohnsitz nimmt.
image004

Noch in Mumpf, um 1930, entstehen ihre ersten Bildteppiche. „Drei Freundinnen“ ist eine Seidenapplikation und als ältestes Werk im Familienbesitz. Besonders das rote Kleid hat gelitten, weil Tochter Gabriele mit ihren Fingernägeln immer wieder darüber gefahren ist. Das inzwischen verblichene Werk hat die Wirrnisse der Kriegsjahre überlebt. Ein zweites Werk nennt sie „Glücksapfel“, ein drittes „Astrologie“, beide aus Wolle.

Eine schicksalshafte Entscheidung
1934: Josef Riede, Innenarchitekt und Bühnengestalter aus Ludwigshafen am Rhein und Mathilde Hurt, Arbeitslehrerin aus Mumpf geben sich das Ja-Wort. Sie lassen sich in Ludwigshafen nieder und wohnen in ihrem Wohn- und Geschäftshaus. Sie betreiben einen Einkaufsladen für Böden, Tapeten und Vorhänge. Durch ihre Heirat mit einem Deutschen verliert sie das Schweizer Bürgerrecht. Es ist die Zeit, in dem Reichspräsident von Hindenburg stirbt und Hitler als Reichskanzler auch noch Reichspräsident wird. Sie bleibt jedoch Fricktalerin: Stets spricht sie Fricktaler Mundart, beflaggt beim Besuch des Führers 1935 das Haus in Ludwigshafen nicht und wird beschimpft, weil sie nicht recht grüssen könne.

In Deutschland setzt sie ihre künstlerischen Arbeiten fort. 1934 entsteht „Hochzeitsreise“ mit Eindrücken aus Madeira, Teneriffa und Algerien. Und 1935 schafft sie das „Lebensrad“. Beide Werke sind Wollstickereien.

1936 kommt Tochter Gabriele zur Welt. Mathilde Riede-Hurt ist nun fünffach beschäftigt, in alphabetischer Reihenfolge: Als Ehefrau, als Geschäftsfrau, als Hausfrau, als Künstlerin und als Mutter. Sie schreibt später einmal über Hausfrauenarbeit: Kochen, Fressen, Putzen, Fegen, Kaufen etc... -- mir liegt es nicht und kann mich nicht befriedigen.

Umso mehr geniesst sie ihre künstlerische Betätigung. Das hat sicher auch zu tun mit den Verbindungen zur Kunst- und Gönnerwelt von Ludwigshafen. Dazu gehören die Industriellenfamilien Kurt Raschig und Klaus Raschig, der Kunsthalledirektor von Mannheim, Walter Passarge, der Kunsthandel mit Frau Stern-Neumann und bildende Künstler wie die Malerfamilie Overbeck.

Es hat vor allem damit zu tun, dass sie Verbindung bekommt mit der Forschungsabteilung der aufstrebenden BASF (Badische Anilin- und Sodafabrik). Diese erfand ein Verfahren, um Leinengarne lichtecht und waschecht einzufärben. Mathilde Riede entscheidet sich für eine Farb-Palette mit kräftig-erdigen Farbtönen und nimmt daran in all den Jahren der Leinenstickerei keinerlei Änderungen vor.

1937 blüht Deutschland auf. Es geht aufwärts, indem die Arbeitslosenzahlen sinken. Chemie, Autobahnbau, Autofabriken, Rüstungsindustrien laufen auf vollen Touren. Allerdings lässt Hitler seine Flugzeuge erproben - im spanischen Bürgerkrieg mit der Bombardierung der Baskenstadt Guernica.

1938 bewirkt Hitler den Anschluss Österreich’s und Teile der Tschechoslowakei an das Deutschen Reich. Im November folgt nach der Pogromnacht die Entrechtung der Juden und der Einzug ihres Vermögens.

Der Kriegsbeginn
1939 fällt Hitler in Polen ein. Auch zerschlägt er die restliche Tschechoslowakei. Er kündigt schliesslich auch die Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa an.

1940: Hitler fällt in Frankreich ein, beginnt die Luftschlacht um England und besetzt Norwegen. Das Konzentrationslager Auschwitz wird errichtet.

Was kommt da auf Mathilde zu? Was machen diese Zeiten aus ihr? Erst das Aufblühen 1937 und dann wird ihr Mann in den Wehrdienst eingezogen. Im täglichen Familien- und Geschäftsleben ist sie plötzlich weitgehend auf sich selbst angewiesen. Sie fühlt sich fremd in diesem Land und dem Geschehen gegenüber. Sie spürt, wie sie immer mehr eine Gefangene wird, abgeschnitten vom Heimatdorf, von der Familie, ohne Schweizer Bürgerrecht, umgeben von einem unerträglichen Gedankengut, vor einer ungewissen Zukunft. Im Alltag hängt sie dauernd und unmittelbar von den Nazis ab. Mathilde spürt schwere Unbehagen aufsteigen. Sie schreibt im April 1939: Wie die Adern des Körpers bis in die Finger- und Zehenspitzen durchdringen, so ist es mit den Nationalsozialisten.

image005
image006
Das Paradies als Schlaraffenland und die Arche als einzige Rettung.
Genau in diesen Zeiten zwischen 1937 und 1940 entstehen auch ihre ersten Leinenstickereien. Zum Beispiel 1937 „Paradies“ und 1940 „Arche Noah“. Doch was sind das für zwei Gegensätze. Im „Paradies“ liegen die Fülle des Lebens, Hoffnung, Lebensfreude, vielleicht der „Aufbruch“ des Jahres 1937. Die Vierfüssler stehen geerdet da. Vögel jauchzen himmelhoch. Die Menschen gehen Hand in Hand. Die Natur ist reich an Formen und Farben. Alles ist da, im verschwenderischen Überfluss.

1940 dann die Arche Noah. Noah baut sie, weil eine grosse Gefahr, eine gewaltige Flut droht und er Menschen, Pflanzen und Tiere darin zum Überleben retten will. Die Arche steht für den Glauben an die Zukunft, für einen starken Überlebenswillen, für Widerstand. Erkennt Mathilde die Gefahren, die auf die Welt zusteuern? In den beiden Werken Paradies und Arche liegen die Gegensätzlichkeiten von Aufbruch und Untergang.

1941: Deutschland überfällt die Sowjetunion. Die Endlösung der Judenfrage wird angekündigt, das Tragen des Judensterns angeordnet. Im selben Jahr wird ihr Sohn Urs Nikolaus geboren. Mathilde beginnt in der Folge eine weitere Leinenstickerei, die sie 1942 vollendet: „Lebensbaum“. Das Leben pulsiert auf allen Stufen in vielerlei Variationen unbändig und lustvoll. Alle bedienen sich an den Früchten des Lebens-Baumes, doch zuunterst lauert die Schlange und auf der obersten Stufe bleibt nur noch der Esel. Dieser Behang bietet viel Raum für Interpretationen. Was Mathilde in ihrer Lebenslage ausdrücken will, bleibt unbeantwortet.
image007
image008
Lebensbaum mit Schlange und Esel - Fasnachtsbräuche

Auch die Deutung des Wandbehangs anfangs 1943, “Fasnachtsbräuche“ als Leinenstickerei ist uns überlassen. Warum gerade der unverfängliche Titel? Geht es ihr um Heimatliebe, Erinnerungen an das Brauchtum, Ablenkung vom Zeitgeschehen? Sieht sie die Welt voll von Narren, Dämonen, Hexen, Teufeln? Oder philosophiert sie: Das Tragen von Masken wird irgendeinmal beendet sein – die Wahrkeit kommt ans Tageslicht. Mathilde Riede hat eben auch einen starken Hang zu Sarkasmus und Ironie.

Mathilde’s Haus wird bombardiert
Im August 1943 folgt ein Tiefschlag. Ludwigshafen erlebt schwere Bombennächte, ihr Wohn- und Geschäftshaus wird zu einem Trümmerhaufen. Mathilde erhält die Kunde bei einem Kuraufenthalt in Bad Dürrheim im Schwarzwald. In der ersten Not bekommt die Familie ein Zimmer bei Freunden. Dann sorgt Ehemann Josef Riede bei einem Militärurlaub für einen Wechsel nach Esthal im Pfälzer Wald. In diesem ärmlichen Dorf hat er im Lehrerhaus eine kleine Wohnung ausgemacht mit Küche und zwei Zimmern. Einen speziellen Waschraum gibt es hier wie fortan nicht mehr. Sie stellen eine Zinnwanne in der Küche auf und nehmen dann alle im gleichen Wasser nacheinander ein Bad. Ihr Glück im Lehrerhaus währt bis Ende des Jahres 1943. Die Zimmer werden von der Vermieter-Familie gebraucht. Mathilde kann dann unter Mithilfe ihres Mannes zwei Räume in einer Militärbaracke beziehen.

image009
22. Februar 44: Herrliches sonniges Winterwetter! Wir müssen die Öfen wacker heizen um nicht zu frieren. Doch Seppl ist ja heute noch da! Uns ist so friedlich in unserer Hütte. Bei uns ist es sogar recht wohnlich geworden! Seppl ist ein Kauz. Tags darauf schreibt sie: Mein neuer Behang gibt mir viel zu denken.

15. Juni 1944: Der Behang „Muntphein“ ist fertig. Schlechter als schlecht. Er machte mir sehr viel Kopfzerbrechen. Ich habe viel gelernt dabei. Dass ich nichts kann und dass ich den Behang nicht aus Liebe zur Stickerei gemacht habe, sondern zum Malen.

Tatsächlich ist der Wandteppich sehr dicht bestickt und zwar mit bis zu drei Lagen. Mit jedem Stich könnte sie ihr Heimweh, ihre Hilferufe, ihr Schicksal hinein verwoben haben. Das Werk ist sehr üppig im Gegensatz zu den mageren Zeiten und brutalen Verlusten, die sie durchleben muss. Mathilde sieht sich auf der Mumpfer Fluh, rund herum reiche Fruchtfelder, satte Blumenwiesen und behangene Apfelbäume. Sie hält die Schürze weit offen, um sie mit Gaben aus der Heimat füllen zu können. Sie bezeichnet ihr Heimatdorf Mumpf mit dem Namen „Muntphein“ aus dem Mittelalter, als ob sie die Zeit weit zurückdrehen möchte.

1944 erhält sie den Auftrag, für die Pfarrei Esthal zwei Prozessionsfahnen zu sticken: Eine Marienfahne und eine St. Georgsfahne.
1. Juli: Die Entwürfe der Fahnen sind ganz ordentlich.
3. Juli: Ich will einen Behang machen über Bruder Klaus. Die Marienfahne ist bald fertig.
12. August: St. Georgsfahne wird ganz gut.
Mathilde Riede arbeitet also die ganze Zeit wie besessen an ihren Behängen. Doch die Geschmäcker der Künstlerin und des Pfarrers scheinen verschieden zu sein. Vielleicht sind die Stickereien zu wenig fromm, zu wenig heilig, zu wenig huldvoll – der Pfarrer ordnet die beiden Fahnen im hintersten Prozessionsviertel ein.

Mathilde’s Vater stirbt
12. August 1944: Von daheim höre ich schon kange nichts mehr. Wie geht es wohl Vater? Mathilde ahnt, dass die Verluste weiter gehen.
27. August: Von Vater habe ich keine gute Nachricht. Er wird den Herbst nicht erleben. Wenn das Laub fällt, wird er das Schlimmste überstanden haben.
Am 30. August erhält Mathilde die Todesanzeige. Wir lesen im Tagebuch:
Seit Wochen war ich ein zerrissener, hin- und hergezogener Mensch. Oft musste ich von meiner Arbeit weg um etwas anderes zu tun. Oder ich lief wie suchend übers Feld. Heute ist mir alles klar geworden. Vater lag im Sterben, seine Seele nahm Abschied. In mir liegt nicht mehr der Schmerz, sondern eine feiertägliche Stille und Ruhe. Vater ist tot. Vater ruhe gut, Du hast uns viel Wertvolles zurückgelassen. Sein gerades Wesen leuchtet mir wie eine Kerze.
image010

Am 9. Oktober 1944 schreibt sie: Meine schöne friedliche Heimat, wie billig tauschte ich dich ein. Bruder Klaus, gib mir doch dein schlichtes rechtes Denken.

Diesem Bruder Klaus widmet sie nun ihre nächste grosse Leinenstickerei. Der Einsiedler ist für die Künstlerin eine Leuchtgestalt, eine Turmgestalt. Auf die Vollendung des Werkes müssen wir allerdings bis 1946 warten! Ein Jahr vor seiner Heiligsprechung.

Es ist der 23. Okober 1944. Der Mutter mit ihren zwei Kindern Gabriele und Urs Nikolaus werden die Barackenräume gekündigt. Hier soll eine hitlertreue Familie eine Unterkunft erhalten. Mathilde, bald obdachlos, weiss nicht wohin. Tags darauf notiert sie: Ich weiss nicht was tun. Wohin soll ich denn ziehen? Eigentlich sind meine grössten Wünsche meiner Kindheit längst in Erfüllung gegangen. Konnte ich dieses Jahr nicht oft genug umziehen? Sie schreibt Seppl. Seppl bekam mein Telegramm: Muss Blockhaus sofort räumen. Komme unverzüglich. Bin obdachlos. Und er kommt.

28. Oktober: Seppl bemüht sich um eine Wohnung. Niemand will uns aufnehmen. Wir bauen ein kleines Häuschen. Wohin denn? Also beschliessen die Beiden, ein eigenes Häuschen zu bauen. Es soll 6x6 Meter messen und ein Wohnzimmer, eine Küche, ein WC und zwei abgeschrägte Dachboden-Schlafzimmer enthalten. Doch das wird dauern.
5. November: Ich habe das Plätzchen. Auf dem Michelsberg. Über allem Lärm. Weg von den Menschen. Mathilde hat die Erlaubnis von der Gemeinde Esthal erhalten, ein Grundstück zu mieten und das Häuschen zu erstellen.
Am Sonntag 12. November 1944 erinnert sich Mathilde an den Mumpfer Kirchenpatron. Es ist also Martinstag. Sechs Tage Regen und Schneefall. In diese Zeit fällt der Auszug aus der Baracke. Bei Wind und Regenwetter, wie sie schreibt. Diese Tage kann ich nie vergessen. Umziehen wohin? Ich war zum Glück unempfindlich gegen alle Empfindungen, stumpf und stur arbeitete ich wie ein Lasttier. Nass bis an die Knie und kalt bis an die Nase.
Sie beginnt mit ihren Kindern den Abtransport ihrer Habseligkeiten, darunter die Stickereien und die Stickgarne. Mit einem geborgten Schubkarren steuert sie dem Wald zu. Eine Frau ruft aus dem Fenster: „Hilde, wo gehst du hin?“ „In den Wald“. Das lässt die Frau nicht zu und räumt ein Zimmer in ihrem Haus. Eine Weile später bekommt die Familie in einem andern Haus einen Mansardenraum zum Bewohnen.

9. Dezember 1944: Ich hüte oft ganz wüste Gedanken. Ich habe die ganze Welt auf dem Strich. Das Leben ist für mich aus. Ich muss tot sein. Nichts mehr empfinden. Stumpf dahinleben. Nichts denken. Nichts mehr wünschen. Ein Nichts sein. Doch der Lebenswille und die Widerstandskraft lösen ihre Depressionen ab: Um den Jahresanfang 1945 schaufelt sie zusammen mit zwei alten, nicht mehr kriegstauglichen Männern das Fundament des Häuschens aus. Und zusammen erstellen sie mit Steinen und Mörtel die Mauern.
Auch arbeitet sie an einer weiteren Stickerei, betitelt mit „Weltkugel“. Schiefe Häuser, ausgestorbener Ort, totes Blattwerk, gebrochene Bäume, keinerlei Getier, beengende Stille, ein Geisterdorf stellvertretend für den Globus, so sieht sie die Welt.

Ihr Arbeiten auf dem Bau und an den Stickereien lässt keine Zeit mehr zum Schreiben bis zum 30. April 1945, ihrem 39. Geburtstag: Wir warten von einem Tag auf den andern auf das Ende des Krieges. Was kommt aber dann? Von Seppl weiss ich nichts mehr. Ob er lebt? Es wird ein hartes Leben werden. Mein Häuschen macht keine Fortschritte, der Dachstuhl fehlt. Wäre es doch wenigstens möglich, für die Kinder wieder ein anständiges Haus zu haben. Wir wohnen ja so armselig und wüst.

2. Mai 1945: Langsam geht dem Kriegsungeheuer das Schnaufen aus. Hitler soll tot sein. Wäre doch die Welt um seine Geschichte ärmer.
29. August: Könnte ich doch etwas von Seppl hören.
17. September: Mir ist zum Verzweifeln.
21. Oktober: Heute Post von Seppl. Er ist in britischer Gefangenschaft. Ich will ihm sofort schreiben. Er muss wissen, dass wir auf ihn warten.
12. November 1945: Bald sind es vier Wochen, seit ich von Seppl gehört habe. Während schon viele entlassen sind, muss Seppl immer noch hinter Stacheldraht als Gefangener sitzen. Wie notwendig wäre Seppl daheim. Wie mühselig schlage ich mich mit dem Bau des Häuschens durch. Käme er doch bis wir einziehen. Bis am 1. Dezember wollen wir einziehen, am liebsten würde ich morgen schon anfangen.

Unterdessen hat nämlich der Bürgermeister persönlich den Dachstuhl mit dem Fuhrwerk zum Häuschen gebracht und montiert. Beim Bürgermeister ist Mathilde hoch angesehen, auch durch ihren Mut und ihr Anpacken. Einzelne Soldaten beginnen, sich vom Krieg abzusetzen. Diese verstecken sich im Wald ob Esthal im Gebüsch, vielleicht auch in Höhlen. Mathilde sammelt im Dorf Decken und Esswaren für sie. Das ist streng verboten, denn: Zuerst sind diese Männer Deserteure der Hitlerarmee und dann aber auch Gefangene der Alliierten.

Der Einzug ins Häuschen kann pünktlich stattfinden! Leider ohne Seppl.
9. Dezember: Unsere Kinder sind so glücklich darin. Ich mag ihnen das kleine Paradies gönnen. Und wenn wir erst mal noch in unserem Garten arbeiten können. Wir düngen ja so fest mit unseren Nachttöpfen. Wie es platscht!
Aber dann das Kraut! Ich bin jetzt schon stolz auf den Erfolg!
23. Dezember: Nachts ½ vor 12 Uhr: Seppl ist heimgekehrt. Nun soll es Weihnachten werden.

Krieg zu Ende – Elend und Armut bleiben
Als Seppl eintrifft, trägt er abgelaufene Schuhe, mit einem Stück Autoreifen als Sohle. Er schleppt sich müde durchs Dorf, das ihn schon erwartet. Die Dorfjugend eilt ihm voraus, empor zum weissen Häuschen und künden Seppl an. Es dauert noch eine Weile, bis er sich ins neue Haus hinauf gekämpft hat.
24. Dezember 1945: Es weihnachtet sehr in und um das weisse Häuschen. Wir haben die Schweizerfahne aushängen. Gibt es glücklichere Menschenkinder als wir. Alle Sorgen schütteln wir für Tage weit von uns.
29. Dezember: Das alte Jahr ist zu Ende. Viel haben wir erlebt. Aber etwas ist schön, dass Seppl daheim ist.

Mit dem Jahresbeginn gerät Mathilde Riede wieder in eine tiefe Depression:
1. Januar 1946: Wir haben nichts mehr als unsere Kinder.
15. Januar: Mit jedem Tag wird es aussichtloser, trüber und trauriger. Wir ersehnen nichts mehr als endlich unsere Ruhe im Grabe. Für mich noch mein einziger Trost. Schlafen.
Am 30. Januar 1946 beklagt sie sich über diejenigen, die heute Politik machen. Sie nennt sie klägliche schmutzige Kreaturen. Und dann wörtlich:
Als Staatsoberhäupter müsste jedes Land einen Niklaus von der Flüe besitzen.
21. Februar: Seit Jahren der erste Geburtstag von Seppl als Familienfest. Wir sollten froh sein, können aber nicht. Wir sind sehr bedrückt.

Und während der Stickarbeiten fragt sie sich: Wer ist schuld? - Wir! - Weil wir der Gerechtigkeit nicht beistehen! Wir müssten gerade Menschen werden. Wir bräuchten Staatsmänner ohne Eigennutz, solche wie Bruder Klaus.

image011
Und dann ist er vor uns: Bruder Klaus. Der Behang zeigt die Lebensstationen: Links das Haus in Sachseln, seine Familie, als Ratsherr, als Bauer, als Richter, als Soldat. Rechts als Suchender auf dem Weg Richtung Norden und zurück ins Ranft. Und dann in der Mitte seine Kernbotschaft der Friedenssuche in der Tagsatzung und in seinen Friedens-Botschaften, Niklaus und seine eindrückliche, hagere Gestalt.

28. April: Es geht immer näher an meinen Geburtstag. 40 Jahre alt. Stellt euch vor! 40 Jahre alt. Die beste Zeit meines Lebens ist dahin. Was blieb übrig? In Ludwigshafen ein Schutthaufen. - Kein Geschäft. - Keine Aussicht. –– Deutsche. Musste ich doch dieses Wort immer hassen. Wir sitzen im Dreck. Wie schön war es daheim. Warum sieht man das immer zu spät?

Ja, auch wenn der Krieg zu Ende ist, das Elend besteht weiter, ja es verdichtet sich. Da ist Seppl. Im Mai 1946 bemüht er sich um eine Arbeit und erkundigt sich über die Handdruckerei im Stoffdruckbereich. Doch können sich die Menschen neue Tücher leisten?
19. Juli: Bald ist mir alles Wurst. Seppl ist ja auch sehr gleichgültig. Er macht sich keine Sorgen um uns. Offenbar schläft Seppl länger als Mathilde: Wie ich die Schläfer hasse. Menschen ohne Schmalz und Schwungkraft.
Offenbar überzeichnet Mathilde, gestresst und entkräftet vom Erlebten, ihren Mann. Auch er ist ausgelaugt durch das Geschehen und das Gesehene und kann halt auch nicht mehr hundert Prozent bringen.
2. August: Zeige mir doch einen Weg. Den rechten Weg. Zeige ihn auch Seppl.
Dann ist da auch der stets all gegenwärtige Hunger: Das Brot reicht nicht mehr. - Dieses Hungern ist abscheulich. – Keine Kartoffeln, keinen Käse und nur wenig Butter. - Sollen die Kinder leben? - Wieder gekürzte Brotration. – Es ist einfach furchtbar, wie man ständig mit dem Hungergefühl im Magen herumläuft. – Wir werden verhungern.

Mathilde und Josef versuchen, den Hunger wenigstens etwas zu lindern:
Aus Rüben bereiten sie zuckerhaltige Melasse, einen Zuckerdicksaft.
Aus Kartoffelschalen stellten sie Küchlein her. Aus Buchnüssen pressen sie Salatöl (7 kg Buchnüssen ergeben 1 l Öl - Wikipedia). Beide Kinder haben Mangelerscheinungen. Der Sohn erinnert sich in einem Buch an ihre Wasserbäuche. Vor allem aber leidet die 10 Jahre alte Gabriele. Ihre Bronchien bereiten ihr böse Atemnöte.

Schweren Herzens beschliessen die Eltern am 20. November 1946, sie mit Hilfe einer Krankenschwester in die Schweiz zu schmuggeln. Diese Krankenschwester überzeugt die Grenzbehörden, dass das keuchend atmende Mädchen neben ihr in Basel dringend eine Spritze erhalten müsse, die es in Deutschland nicht gäbe. Nach längerem Beraten lassen die Beamten die Beiden durch. Gabriele wird von ihrer Tante Elisabeth in Empfang und in Obhut genommen.

Drei Monate später wollen Mathilde, Josef und Urs die Elisabeth und Gabriele über die grüne Grenze sehen. Als Urs seine Schwester auf der Schweizer Seite erblickt, stürmt er kurzerhand unter dem Schlagbaum hindurch zu ihr. Somit sorgt Elisabeth Brenner-Hurt, die Schwester von Mathilde Riede-Hurt für die beiden Kinder. Diese Lösung treffen die in Deutschland zurückbleibenden Eltern nicht leichten Herzens. Sie vermissen ihre Kinder schmerzhaft. Doch sie wissen auch, dass die Beiden nun nicht verhungern müssen.

Kampf um die Rückkehr
Und dann ist da noch etwas. Mathilde will seit dem Kriegsende in die Schweiz zurück und das Schweizer Bürgerrecht wiedererlangen. Wie es ihr ergeht, hält sie im Behang „Flueh“ 1947 fest. Erkennen wir die Mumpfer Fluh? Das Dorf? Den Rhein? Die Eisenbahnbrücke? Alles verfremdet! Böse Fische schwimmen bedrohlich im Fluss. Die Grenzbarriere ist unten, davor wartet Mathilde auf einem Boot. Der Eintritt wird ihr verwehrt. Was soll das? Sie erkennt ihr Dorf, ihre Heimat nicht mehr. Sie steht vor Fremdem, auch wenn es die Schweiz ist.
image012

Schon anfangs 1946 stellt sie einen Antrag für die Einreise in die Schweiz und zur Wiedererlangung des schweizerischen Bürgerrechts. Am 15. April geht sie zu den französischen Behörden und erkennt: Die Sachen sind liegen geblieben.

Bald ist ihr 40. Geburtstag, wie schon erwähnt. Weitere Kämpfe stehen ihr bevor.

7. Mai 1946: Heute schreibe ich nochmals ans Schweizerkonsulat. Jetzt will ich wissen, woran ich bin. Vielleicht bleibt auch dieser Brief unbeantwortet. Es soll mir niemand mehr kommen. Überall derselbe Mist.

15. Juli: Noch warte ich auf meine Ausreisegenehmigung. Alles liegt bereit bis auf den Stempel der Franzosen. Mein Leben ist ein grosses hartes Ringen.
18. Juli: Mit meinen Papieren ist immer noch nichts.
19. Juli: Wären wir doch in der Schweiz. Hätte ich doch nie meine Staatsbürgerschaft verloren.
27. Juli: Heute war ich in Neustadt wegen meinen Passangelegenheiten. Die Sache scheint doch einem Ziele näherzukommen.
1. August 1946: Für mich ein stiller aber grosser Feiertag. Meine Heimat. Verlorene Heimat.
10. November: Vielleicht kommen unsere Pässe bald.
20. November 1946: Übrigens hat das Schweizer Konsulat wieder geschrieben. Wenn ich noch Optimist sein könnte, würde ich glauben, die Passgeschichte werde jetzt dann enden. Aber ich bleibe Pessimist und weiss, dass alles nicht gehen wird.

4. Februar 1947: Heute war ich bei den Franzosen in Neustadt. Was wird mit meinen Papieren? Vielleicht, dass es bis im März doch klappt. Es sind ja so viele, die in die Schweiz wollen.
20. Februar: Brief an Konsul. Gestern war Herr und Frau Demuth da. Wir feierten den neuen Behang „Flueh“ und es war recht schön. Frau Demuth ist ein ungemein feines Wesen. Ich stehe neben ihr wie eine Kuh, eine Landpomeranze aus Mumpf.

12. April: Heute bekam ich mein „laissez passer“. Vor lauter „endlich“ weiss ich nicht was tun.
20. Juli: Seit dem 15. April 1947 bin ich daheim. Nein, ich bin nirgends mehr daheim. Ich sehe viele Steine. Keine Herzen. Vollgefressene Menschen. Stumpfe Gesichter.

Die schmerzliche Heimkehr
Sie hat also das „laissez passer“. Das weisse Häuschen in Esthal wird verkauft, Mathilde und die Kinder wohnen in Basel, Josef bezieht eine Wohnung im nahen Lörrach.

Heimgekehrt ist sie per Bahn in einem Viehwagen mit vernagelten Fenstern. Sie erhält die Genehmigung, sich in Basel-Stadt aufzuhalten. Doch hier findet sie vorerst keine Unterkunft, jedoch in Oberwil, Basel-Land, bei einer Freundin. Prompt handelt sich Mathilde eine Verzeigung und eine Strafe ein.

Sie erhält an der Frauenfachschule in Basel vorerst ein paar Aushilfsstunden, 1953 dann ein Vollpensum. In diesem Jahr baut sie sich ein kleines Häuschen auf dem Jakobsberg.

Was sie seit dem Kriegsende besonders beschäftigt: Das Schweizer Bürgerrecht wird ihr verweigert. Sie kann die Absagen nicht verstehen und schimpft über die Behörden. Als Hemmschuh erweist sich ihr Mann. Er als deutscher Soldat erhält ohnehin keine Einreise bewilligt. Und solange sie mit ihm verheiratet ist, ist und bleibt sie Deutsche und erhält kein hiesiges Bürgerrecht. Nach vergeblichen Einbürgerungsversuchen geben die Beiden eine „Proforma-Scheidung“ ein. Wenn es nicht so traurig wäre, könnte daraus fast eine Schildbürgerposse werden.

Das Protokoll des Mumpfer Gemeinderates vom 3. Dezember 1947 hält nachträglich die Scheidungsgründe fest. Mathilde saugt sich haarsträubende Dinge aus den Fingern, zu intim, um sie hier zu nennen. Auch Josef erdenkt sich Beschimpfungen aus, die Mathilde gegen ihn ausgestossen haben soll. Doch die herbeigelogenen Gründe werden anerkannt!

Die Scheidung wird durch das Landesgericht Frankenthal am 14. April 1947 verfügt.

Zu ihrem dritten Einbürgerungsgesuch schreibt der Gemeinderat Mumpf am 3. Dezember 1947 an das eidg. Justiz- und Polizeidepartement:
„Hierorts ist bekannt, dass die Gesuchstellerin sich mehrmals abschlägig über uns Schweizer und unsere Einrichtung geäussert hat. Der Gemeinderat nimmt an, dass sich Frau Riede darüber reuig ist, jemals eine solche Einstellung gehabt zu haben und kann deshalb die Wiederaufnahme ins Schweizer Bürgerrecht empfehlen.“

Im Schreiben des Gemeinderates vom 4. Dezember 1947 an das kant. Justidepartement tönt es dann etwas anders: „Ihre Einstellung während der Glanz- und Siegeszeiten des Dritten Reiches gegenüber uns Schweizern gibt der Minderheit des Gemeinderates volle Berechtigung ihrer Einstellung.“

Der Gemeinderat hat also die Wiedereinbürgerung vermutlich nur mit 3 zu 2 Stimmen befürwortet. Im selben Brief schreibt der Gemeinderat: „Trotzdem die genannte Frau Riede geb. Hurt mehrmals Zeugnis davon gab, keine Spur von Schweizersinn und Schweizerempfinden mehr zu besitzen und sich sogar über unser Schweizerwesen und unsere Tradition lächerlich machte, entschied sich der Gemeinderat mehrheitlich und einzig nur aus Pietätsgefühl unserer ehemaligen Mitbürgerin gegenüber, die Rückbürgerung zu befürworten.“

Am Bettag 1948 erhält sie die Schweizer Staatsbürgerschaft zurück!
Wir sind wieder Schweizer! Herrgott ich danke dir! Der steilste Weg ist nun zurück gelegt. Noch ist ein steiniger Fussweg vor mir. Doch auch diesen muss ich mutig gehen. Lieber Gott, gib mir Segen und Kraft.

31. Oktober 1948: Heute war ich an Mutters Grab in Mumpf. Ich besuchte Herrn Triebold. Alt-Ammann Kaufmann war auch dabei. Merkwürdig, ich war die Einzige, die nichts an Fricktalertum verloren hatte und dennoch war ich eine Fremde in meinem eigenen Dorf. Was ging alles verloren?

So sieht sie mit ihren eigenen Augen ihr Heimatdorf. Ihr Heimkommen sehen die Behörden mit andern Augen an.

Die Wiedererlangung des Bürgerrechts war für Mathilde auch finanziell von Bedeutung. Als ihr Vater starb, wurde ihr Erbe von der Schweiz „eingefroren“. Der Mann ihrer Schwester Elisabeth, Hans Brenner, einstmal Lehrer in Mumpf, Bruder des Ankerwirts Oskar Brenner, reklamierte das ganze Erbe für seine Frau Elisabeth, also Mathildes Schwester. Er bezichtigte Mathildes Mann als Spion und setzte alle Hebel gegen die Wiederabgabe des Bürgerrechts an Mathilde in Bewegung, auch beim Gemeinderat. Erfolglos, wie es sich jetzt zeigte. Sein Bruder Oskar Brenner stand auf Mathildes Seite.

image013
Die Abrechnung mit dem Hitler-Regime
Seit 1942 spürte Mathilde Riede ein starkes Verlangen, mit den „verdammten Nationalsozialisten“ und mit dem „Halunken Hitler“ auf ihre Weise abzurechnen. Erste Skizzen und Entwürfe entstehen. Ihre Vorstellungen sind im Frühling 1946 so weit gediehen, dass sie schreibt: Am Montag 24. März begann ich mit meinem Behang „Abrechnung“. Das Leinenstück misst 186 Zentimeter in der Höhe und 120 Zentimeter in der Breite, gestickt auf diesem Rahmen.

Natürlich muss Mathilde wie auf jedem ihrer Behänge eine genaue Einteilung vornehmen. Sie zeichnet mit einem Stift alle Motive auf den Leinenstoff. Dann spannt sie ihn auf den Rahmen und setzt zu ihren Stichen an.

Das Werk ist gegliedert in sechs Friese. Im obersten Fries stellt sie Hitler in neun Personen als Verführer dar. Zuhinterst steht Hitler als Maler, der im Nachttopf aus Scheisse braune Farbe anrührt, während er sich die Nase zuhält. Die Farbe dient dazu, um Hemden braun einzufärben.
image014

Im zweiten gehen Göring und Göbbels als Anführer der verhexten Kriegskolonne an vorderster Stelle. Die Kolonne erinnert an den Rattenfänger von Hameln.
image015

Der dritte Fries zeigt das angerichtete Chaos mit den Bomben: Ruinen, Flüchtende, Tote, Einäugige. Mathilde reiht sich ein im Zug der Entwurzelten, mit ihren beiden Kindern.
image016

Im vierten Fries sehen wir die Heimkehrnot der Überlebenden, mit militärisch ausgerichteten Krücken. Einbeinige und Blinde sind mit Tapferkeitsorden behangen.
image017

Der fünfte Fries zeigt Verwüstung, Hunger und Tod, Kälte, Hilflosigkeit, das ganze Elend als Endstation des Krieges.
image018

Im letzten Fries zeigt Mathilde Riede die Enttarnung der Anführer: Maskenträger, Grossmäuler, Propagandisten, Kirchenleute, Gerichte, Juristen, Ingenieure. Wir sehen gespaltene Köpfe als Zeichen der zwischen Krieg und Frieden gespaltenen Menschheit.
image019

image020
Später bezeichnet sie ihr Hauptwerk als „Hexeneinmaleins“. Im Kunstmuseum Basel wird es - leider tief im Keller - in einer Schublade gelagert. Anlässlich der Ausstellung in Mumpf 2014 durften wir dieses Werk ausstellen, neben 30 anderen bedeutenden Werken
von Mathilde Riede.

Goethe lässt in seinem Schauspiel Faust von Mephisto in die Hexenküche führen, um für ihn unter den Worten des Hexeneinmaleins einen Verjüngungstrank brauen zu lassen.

„Du musst verstehn! Aus Eins mach’ Zehn,
Und Zwei lass gehn, Und Drei mach’ gleich,
So bist Du reich. Verlier’ die Vier!
Aus Fünf und Sechs, So sagt die Hex’,
Mach’ Sieben und Acht, So ist’s vollbracht:
Und Neun ist Eins, Und Zehn ist keins.
Das ist das Hexen-Einmal-Eins!“

Der Spruch ist ja Unsinn, und doch fallen viele Menschen auf grössten Unsinn herein. Wieviele sind auf Hitler hereingefallen.

Ihr weiteres Leben
Es bietet ihr viele Gelegenheiten, um Widerstand zu leisten gegen Behörden, Politiker, Kunstbanausen, aber auch Gelegenheit viele Kunstwerke zu schaffen zur Natur, zu Heiligen, zu Heimatbräuchen, zum Rhein. Mathilde wechselt, weil die Finger nicht mehr wollen, zu Stoffapplikationen, satirischen Zeichnungen, politischen Versen.

Mathilde Riede-Hurt ist eine starke, eigenwillige, aneckende, mutige, aussergewöhnliche Persönlichkeit, herausgewachsen aus unserem Fricktal und geprägt durch ihr Leben in den schweren Zeiten zwischen 1934 bis 1948. Wir sollten sie nicht vergessen.

Dieser hier leicht angepasste Artikel erschien 2018 in der Jahresschrift „Vom Jura zum Schwarzwald“ der „Fricktalisch-Badischen Vereinigung für Heimatkunde“.


Quellen:
- „Hungertücher“, Bildteppiche MRH, von Urs-Nikolaus Riede und Wolfgang Roth
- „Mit Masken desmakiert“, Satire und Verse der Künstlerin, von Wolfgang Roth
- Tagebuch der Künstlerin (Zitate daraus sind kursiv/fett gehalten)
- Gemeinderatsprotokolle Archiv Mumpf
- Gesprächsauszüge aus Begegnungen mit Gabriele Roth in Kirrweiler, Spiez und Mumpf
- wikipedia.ch
- sikart.ch
- kunstbreite.ch

Autor:
Gerhard Trottmann